1956, 1968, 2022 - nur Zahlen?
Seit dem Systemwechsel war der Jahrestag von 1956 nicht mehr mit einem solchen Nationalgefühl begangen wie heuer, nach 67 Jahren. Dank dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ist es schwer vorstellbar, dass es irgendwo auf der Welt einen Ungarn gibt, der die Empörung nicht teilt. Was war geschehen? In Russland erhielten die Schüler der 11. Klassen am 1. September ein Geschichtsbuch, in dem die Freiheitskämpfer von '56 als „ehemalige Kämpfer der Streitkräfte des faschistischen Ungarn“ bezeichnet werden.
Der aus der Ukraine stammende Journalist Anton Bendarzhevsky hat sich in der Online-Zeitung Index vielleicht am ausführlichsten mit den neuen Schulbüchern beschäftigt. Von nun an können Lehrer nicht mehr aus der vom Bildungsministerium empfohlenen Liste auswählen, wie es bisher der Fall war. Jetzt ist wahr geworden, was Putin im April 2013 „angeregt“ hatte: die Notwendigkeit einheitlicher Geschichtslehrbücher. Nach Ansicht des Kremlherrschers brauchen russische Schüler Schulbücher mit einem „guten, patriotischen Ansatz“, denn „die jungen Menschen wissen nicht, in welchem Land sie leben, und fühlen sich nicht mit früheren Generationen verbunden“.
Zehn Jahre nach der „Anregung“ des Präsidenten sind die Schulbücher nun fertig. Die Klassen 10 und 11 haben sie dieses Jahr erhalten, und nächstes Jahr werden die neuen Schulbücher für die Klassen 4 bis 9 verfügbar sein. Aus ungarischer Sicht ist das erschreckendste Lehrbuch das für die 11. Klasse, das sich mit der sowjetischen Besatzung nach 1945 beschäftigt. Natürlich vor allem mit 1956. Während frühere Lehrbücher „antikommunistische und antisowjetische“ Demonstrationen beschrieben und die Ereignisse, die zur Niederschlagung der Revolution führten, fast korrekt wiedergaben, ist im neuen Lehrbuch von Volksaufstand gar keine Rede mehr: „Die revoltierenden Radikalen, von denen viele ehemalige Kämpfer in den Streitkräften des faschistischen Ungarns waren, gaben nicht nur durch die Zerstörung sowjetischer Denkmäler und Symbole ihre Visitenkarten ab, sondern auch durch zahlreiche Morde an Vertretern der ungarischen Arbeiterpartei, Mitgliedern der Ordnungskräfte und ihren Familien. Selbst einfache Wehrpflichtige, die staatliche Einrichtungen bewachten, fielen brutalen Massakern zum Opfer.“
Zum Vergleich hier ein Zitat aus einem Lehrbuch von vor zwei Jahren: „Im Oktober 1956 zog eine Massendemonstration aus Solidarität mit den Polen durch die Straßen von Budapest. Es kam zu bewaffneten Zusammenstößen. Teile der Armee liefen zu den Demonstranten über. In Budapest begann ein Aufstand. Auf den Straßen kam es zu brutalen Massakern an den Kommunisten. Einheiten des in Ungarn stationierten Spezialkorps der sowjetischen Armee wurden in die Hauptstadt dirigiert. Sie nahmen den Kampf gegen die Aufständischen auf.
Die Leitung der provisorischen Regierung ernannte Imre Nagy zum Ministerpräsidenten, dem es gelang, einen Waffenstillstand und den Abzug der sowjetischen Truppen aus Budapest auszuhandeln. Ungarn begann die Wiederherstellung eines Mehrparteiensystems, und es wurde eine Koalitionsregierung unter Nagys Leitung gebildet, der auch János Kádár angehörte, ein angesehener Kommunist, der unter Stalin unterdrückt worden war. Unter dem Druck der Aufständischen kündigte Nagy den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt an.
Dies gefiel der Sowjetunion nicht. Chruschtschow befürchtete, dass Nagy sich dem Westen annähern würde und dass die osteuropäischen Länder der Reihe nach aus der sozialistischen Gemeinschaft fallen würden. Am 4. November 1956 marschierten die sowjetischen Truppen erneut in Budapest ein. Nagy beschuldigte die Sowjetunion der Aggression. Als Antwort wurde eine prosowjetische Regierung unter Kádárs Leitung gegründet. In der ungarischen Hauptstadt kam es zu heftigen Kämpfen, doch der Widerstand wurde bald niedergeschlagen.“
Laut Anton Bendarzhevsky ist „die Änderung des russischen Lehrmaterials deshalb besorgniserregend, weil ab jetzt Millionen russischer Kinder imperialistische und militaristische Ideen vermittelt bekommen, ohne jeden kritischen Ansatz“. Die nächste Generation von Russen lernt die Ungarn als „faschistische Rebellen“ kennen, und die vom sowjetischen Zwangssystem befreite Ukraine als „Neonazis“. Die bisher wenigstens erwähnten Sünden des Sowjetsystems – wie etwa die Massenmorde – verschwinden aus der Geschichtsschreibung von Putins Russland.
Das neue Geschichtsbuch enthält auch andere inakzeptable Behauptungen, so etwa über den 1989 begonnenen einseitigen Abzug der sowjetischen Truppen aus Ost- und Mitteleuropa. „Dies war eine besonders unüberlegte Entscheidung, denn die Schwächung der sowjetischen Militärpräsenz in den verbündeten Ländern führte zur Zunahme der nationalistischen und antisowjetischen Emotionen".
Die ungarische Regierung reagierte darauf mit großer Zurückhaltung. Die entschiedenste Meinung vertrat Außen- und Außenhandelsminister Péter Szijjártó, der auf eine Frage von ATV so antwortete: „Jeder muss die Geschichte Ungarns, das ungarische Volk, den Wunsch des ungarischen Volkes nach Freiheit respektieren. 1956, die damalige Revolution, ist einer der glorreichsten Momente in der ungarischen Geschichte, als die Ungarn für ihre eigene Freiheit und die Souveränität ihres Landes sogar ihr Leben gaben. Jeder Ungar, der damals für die Freiheit Ungarns eintrat, ist ein Held. Wir weisen jede gegenteilige Etikettierung zurück.“ Auf die Rückfrage, warum der russische Botschafter nicht aus Protest einbestellt worden sei, antwortete er: „Wir sind nicht willens, irgendwann mit irgendjemandem über diese Fragen zu diskutieren.“
Später äußerte sich Balázs Orbán, der politische Direktor von Ministerpräsident Viktor Orbán, in ähnlicher Weise: Die Helden von 1956 seien die wichtigsten und bedeutendsten Persönlichkeiten der ungarischen Nation, die allen Respekt verdienten. „Das erwarten wir von jedem Land“, sagte er.
Überraschend „gesamtungarisch“ war die Reaktion des Kulturpolitikers Szilárd Demeter. „Ich glaube, es gibt keinen Ungarn mit gutem Gewissen, den das [neue russische Geschichtsbuch] nicht empört. Ich verstehe zwar, dass dies eine mögliche Lesart aus der Sicht der Sowjetunion ist, aber das macht es nicht wahr“, sagte der Direktor des Petőfi-Literaturmuseums der Online-Zeitung Telex.
Gergely Karácsony, Oberbürgermeister von Budapest, formulierte die einhellige Meinung der ungarischen Opposition in seinen Worten: „Statt Liebedienerei wären entschiedene Worte am Platz – ich stimme mit jenen überein, die eine Stellungnahme der Regierung, ein Eingreifen des Außenministeriums und zumindest die sofortige Einberufung des russischen Botschafters fordern wegen der Geschichtsfälschung durch den russischen Staat, wegen der Schändung der Erinnerung, des Erbes und der Fakten der Revolution von 1956.“
Als die Empörung der Ungarn abzuflauen begann, setzte Putin einen unerwarteten Schritt. Auf einer Pressekonferenz im fernen Wladiwostok bezeichnete er die Entscheidung der Sowjetunion als Fehler, 1956 Panzer nach Ungarn und 1968 in die Tschechoslowakei zu schicken, um Proteste niederzuschlagen. Als der Journalist wissen wollte, ob er wegen dieser Interventionen die Sowjetunion als „Kolonialmacht“ betrachte, fuhr Putin fort: „Außenpolitisch ist es nicht richtig, Dinge zu tun, die die Interessen anderer Völker verletzen.“ Und der russische Präsident fügte hinzu, dass die USA seiner Meinung nach dieselben Fehler begingen wie damals die Sowjetunion.
Den Angriff auf die Ukraine und den seit 2022 wütenden Krieg erwähnte er überhaupt nicht.
Péter Martos
Original: „Martos Péter: 1956, 1968, 2022 – csak számok?“