Afghanistan: Der US-Abzug steht fest, die Flüchtlingswelle kommt bestimmt
Die Anschläge der Mörderbanden des Islamischen Staates haben den Blick der Weltöffentlichkeit auf die afghanische Hauptstadt Kabul gelenkt. US-Präsident Joe Biden hat Vergeltung geschworen, aber versichert: Der endgültige Abzug aus dem mittelasiatischen Bergland findet am 31. August statt. Nach Vietnam der zweite Staat, der den Amerikanern psychische Pein verursacht.
Die Nachrichtenagentur Bloomberg mit Sitz in New York City legt den Finger auf jene Afghanistan-Wunde, die Europa noch viel mehr schmerzen wird als die USA: die Flüchtlingsproblematik. Dabei wird angesichts der langen Untätigkeit der Europäer nicht mit Kritik gespart. Der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) zum Beispiel habe kontinuierlich warnende Berichte nach Berlin geschickt, doch habe die Bundesregierung den Kopf in den Sand gesteckt. „Zynisch könnte man formulieren, dass die von Washington gesetzte Frist (31. August, Anm. d. Red.) eine angenehme Ausrede für die europäischen Verbündeten war, die Rettungsaktionen zu beenden, während großteils nur noch Afghanen auf den Abtransport warteten.“ Jetzt werde keinerlei Grenzzaun die Migranten aufhalten. Die EU brauche mehr als die vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron verkündete „strategische Autonomie“, sie müsse „auf mutige und unabhängige Weise entscheiden“.
Welche Entscheidung Brüssel auch trifft – es wird gut daran tun, nicht zu vergessen, wie blutig die Taliban mit angeblichen Verrätern umgegangen sind. Deshalb standen vielen Europäern die Haare zu Berge, als sie erfuhren, dass die USA den Taliban vereinbarungsgemäß die Liste der mit den Amerikanern zusammenarbeitenden afghanischen Zivilisten übergeben hätten. Ein Angestellter der US-Armee kommentierte das so: „Sie haben ihnen praktisch eine Todesliste ausgehändigt!“ Die überwiegende Mehrheit der europäischen Politik-Analysten neigt dazu, ihm recht zu geben. Sie erinnern an die Schreckensherrschaft in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Da nützt es wenig, dass die Taliban gelobt haben, „die Zukunft zu bauen und zu vergessen, was in der Vergangenheit in Afganistan geschehen ist“ – wie das ihr Sprecher Sabihullah Mudschahid im Interview mit den „New York Times“ (NYT) versichert hat. Dieser Mann scheint der Stratege hinter dem Image-Täuschungsmanöver der neuen Kabuler Machthaber zu sein. So erklärte er den NYT auch sehr versöhnlich, warum Musik wie in den 90ern verboten sein werde. In der Öffentlichkeit werde Musik wieder tabu sein, „denn im Islam ist Musizieren verboten“, sagte Mudschahid. Und fügte hinzu: „Hoffentlich können wir die Menschen davon überzeugen, damit wir keinen Druck auf sie ausüben müssen“.
Mudschahid ist mit allen Wassern gewaschen. Die Problematik der unterschiedlichen Sichtweisen der Rolle der Frau umschiffte er souverän. Berufstätige Frauen wurden aufgefordert, zur Sicherheit zu Hause zu bleiben, „weil die Soldaten noch nicht dafür geschult sind, sie zu achten“. Also wäre es am besten, wenn sie gar nicht von zu Hause weggingen. Während der 2001 beendeten Taliban-Schrechensherrschaft war die Scharia in aller Strenge auf Frauen angewandt worden.
Mudschahid war es auch, der den Europäern völlig unberechtigte Hoffnungen gemacht hatte, dass die Machtübernahme der Taliban vielleicht ohne Flüchtlingswelle abgehen könnte. Er sagte nämlich: „Wer gültige Dokumente hat, kann das Land weiterhin verlassen.“ Den verlogenen Umkehrschluss, dass es keine Notwendigkeit zur Flucht geben werde, brauchte er nicht hinzuzufügen…
Wahr ist hingegen, dass die Migration indessen schon begonnen hat und spätestens seit den blutigen Anschlägen von Kabul verstärkt weitergehen wird. Die europäischen Staaten dürfen davon ausgehen, dass für die überwiegende Mehrheit die Flucht in den islamischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion östlich des Kaspischen Meeres, vor allem in Turkmenistan und Usbekistan, zu Ende gehen werde. Nach Westen in den Iran und in das südlich angrenzende Pakistan dürften weniger Afghanen belangen.
Gegenwärtig haben die Europäer alle Hände voll zu tun, jene Afghanen unterzubringen, die mit ihnen zusammengearbeitet hatten und die deshalb über die humanitäre Luftbrücke gerettet wurden. Nicht jeder Staat legt dabei offen, um wie viele Personen es sich dabei handelte. Ungarn hat bis 25. August in 14 Flügen insgesamt 540 Menschen ausgeflogen und damit die „Operation Schamane“, die letzte Militäraktion in Afghanistan, abgeschlossen. Unter den zuerst nach Usbekistan und dann nach Ungarn Geflogenen befanden sich mmerhehitlich Ungarn sowie einzelne Amerikaner und etwa 20 Österreicher. Zu den Afghanen wurde nur vermerkt, dass 87 Prozent der auf einer Namensliste stehenden Menschen ausgeflogen worden seien, unter ihnen 57 Familien und 180 Kinder. Sie befinden sich in Quarantäne in den aufgelösten Flüchtlingslagern Röszke und Tompa an der Grenze zu Serbien.
Was Österreich betrifft, so ist das Bundesheer seit dem Ende der Beteiligung an der Sicherheits- und Wiederaufbaumission ISAF (International Security Assistance Force) im Jahr 2015 nicht mehr in Afghanistan präsent. Neben den von ungarischen Maschinen mitgenommenen Personen warten gegenwärtig noch etwa 30 österreichische Staatsbürger afghanischer Herkunft darauf, ausgeflogen zu werden. Die Betroffenen seien aufgefordert worden, sich zum Flughafen in Kabul zu begeben, meinte Gabriele Juen, Sprecherin des Wiener Aussenministeriums, den „Salzburger Nachrichten“. Dem Ö1-„Abendjournal" sagte sie, es sei die Frage, „ob sie als afghanische Staatsbürger Zugang zum Flughafen bekommen werden".
Die sozialdemokratische Opposition ortet bei diesen Evakuierungsversuchen ein „türkises Versagen“. Andere Staaten hätten das Ausfliegen ihrer Leute schon vor einer Woche abgeschlossen beziehungsweise würden diese von Verstecken abholen und sie zum Flughafen geleiten. Die heimische Bundesregierung teile Betroffenen hingegen lapidar mit, „sie sollen sich selbst zum Flughafen in Kabul durchschlagen“, so SPÖ-Klubchef Jörg Leichtfried und Wehrsprecher Robert Laimer.
Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) hat derartige Vorwürfe in der ZiB 2 kategorisch zurückgewiesen. Man tue alles, um Menschen aus Afghanistan herauszubekommen, alle Länder mit diesem Ansinnen hätten große Probleme. Einmal mehr betonte Schallenberg auch seine Ablehnung der Aufnahme afghanischer Flüchtlinge. Kritik – unter anderen von Bundespräsident Alexander Van der Bellen, der zur Aufnahme von Afghanen aufgerufen hatte – wies Schallenberg zurück. Österreich nehme seine Verpflichtung zu helfen anders wahr. Die Regierung werde weitere 15 Millionen Euro Soforthilfe für die UNO und das Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) leisten, kündigte der Außenminister an.
Die Kritik an der ÖVP wegen deren Weigerung, Flüchtlingen aus Afghanistan humanitäre Hilfe zu gewähren und sie in Österreich aufzunehmen, reißt laut „Standard“ nicht ab. Nach Vizekanzler Werner Kogler (Grüne), der dem türkisen Koalitionspartner mangelnde Menschlichkeit vorwarf, schlägt auch die SPÖ verstärkt einen Gegenkurs zur Kanzlerpartei ein. Der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) bekräftigte am Donnerstag sein Angebot, Flüchtlinge aufzunehmen. Er denke beispielsweise "an 300 Richterinnen, die in Afghanistan das erste Mal als Frauen in solche Positionen gekommen sind. Die jetzt im Leben sehr oft bedroht sind, die auf Todeslisten sind", sagte Ludwig in einem Interview mit dem TV-Sender „Puls 24“. Auch Journalistinnen und andere Frauen, die sich dafür eingesetzt hätten, dass Mädchen eine entsprechende Schul- und Bildungslaufbahn einschlagen können, bräuchten nun Hilfe, so Ludwig.
Inzwischen bahnt sich in der EU der nächste Konflikt um Afghanistan an. Die Innenminister halten am 31. August – dem Tag des endgültigen Abzugs der US-Truppen – eine Videokonferenz ab, in deren Mittelpunkt die zu erwartende Migrationswelle stehen wird. Peter Stano, Sprecher der EU-Kommission, hat schon daran erinnert, dass die Mitgliedstaaten bis Mitte September mitteilen sollen, welche Flüchtlingsquote sie übernehmen wollen. Die österreichische und die ungarische Regierung haben schon mitgeteilt, dass sie maximal jene Afghanen aufnehmen wollen, die mit ihren Ländern zusammengearbeitet haben. Levente Magyar, parlamentarischer Staatsekretär im Budapester Außenministerium, betonte, dass von Quoten keine Rede sein könne.
Peter Martos