Das Entstehen des Burgenlandes vor 100 Jahre
Als im Spätherbst 1918 der Erste Weltkrieg zu Ende ging und die Habsburgermonarchie in einzelne Teilstaaten zerfiel, wurde auch für die Menschen in – wie man damals sagte – Deutschwestungarn die Frage der zukünftigen Staatszugehörigkeit brennend aktuell. Viele hunderte Familien dieser Region verdienten seit Generationen ihren Lebensunterhalt dadurch, dass sie als Arbeiter und Arbeiterinnen in der Industrie und im Gewerbe Arbeitsplätze im benachbarten Niederösterreich und Wien bzw. im Süden des Landes in der Steiermark hatten. Auch viele Landwirte hatten in den dortigen Ballungszentren einen gesicherten Absatzmarkt für ihre Produkte, die sie direkt an die Konsumenten verkaufen konnten und so einen ruinösen Konkurrenzkampf über den Großhandel vermeiden konnten. Als an der Leitha und der Lafnitz plötzlich eine Grenze zwischen nun völlig getrennten souveränen Staaten – den Republiken Deutsch-Österreich und Ungarn – entstand, drohte hunderten Wanderarbeitern aus den westungarischen Dörfern der Verlust ihres Arbeitsplatzes. Auch die Bauern fürchteten durch rigorose Zollgrenzen und neue bürokratische Hindernisse große Anteile ihrer bisherigen Einkünfte zu verlieren, zumal ein Ausgleich auf dem ungarischen Binnenmarkt kaum gegeben war. So war es für viele Menschen eine Existenzfrage ihre engen Verbindungen zum österreichischen Nachbarland zu behalten.
Im Vertrauen auf das von den Allierten Siegermächten propagierte „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ und auf das Beispiel in vielen neuen Nachbarstaaten pochend, entstanden an vielen Orten Deutsch-Westungarns spontane, aber naiv durchgeführte Aktionen und Demonstrationen, die den Anschluss ihrer Heimat an Österreich forderten – wie z.B. die Ausrufung einer „Republik Heinzenland“ im Norden des Landes, sowie ähnlicher Bewegungen um den Mühlenbesitzer Karl Wollinger aus Heiligenkreuz im Lafnitztal orderten. Sie alle wurden in kürzester Zeit von ungarischen Exekutivorganen niedergeschlagen, sodass man erkennen musste, dass die Frage nur in den nun in Paris anlaufenden Friedensverhandlungen entschieden werden konnte. Zwar hatte die neugegründete Republik Österreich schon am 12. November 1918 gefordert „das geschlossene deutsche, dem deutschösterreichischen Staate unmittelbar angrenzende Siedlungsgebiet“ an Österreich anzuschließen, doch zeigte es bald, dass die Siegermächte nicht geneigt waren, mit den besiegten Staaten schon bei dem Beginn der Friedensverhandlungen zu sprechen. Erst im Mai 1919 wurde eine österreichische Verhandlungsdelegation nach Paris eingeladen und selbst da wäre man wahrscheinlich nicht auf die „Burgenlandfrage“ eingegangen, wenn nicht die Tschechoslowakei, die als quasi verbündete Siegermacht in Paris bei den vorbereitenden Verhandlungen „mit am Tisch saß“, den Plan eines „slawischen Korridors“ ins Gespräch gebracht hätte. Um dem neuen Binnenstaat ČSR, der wegen diverser Grenzstreitigkeiten Probleme mit allen Nachbarstaaten befürchtete einen Zugang zum befreundeten Staat Jugoslawien und damit zu dessen Adriahäfen zu bekommen, sollte ein breiter Landstreifen durch westungarisches Gebiet die beiden Länder verbinden. Der Plan fand zwar Unterstützung von Frankreich, stieß aber auf heftige Gegnerschaft Italiens. Um eine möglichst objektive Sicht der Dinge zu bekommen, wurde eine amerikanische – da neutral – Untersuchungskommission beauftragt den Streitfall zu untersuchen. Das Ergebnis, das die unter der Leitung des Mitteleuropaexperten Archibald Coolidge erarbeitet wurde, beendete die Weiterverfolgung des „abenteuerlichen Planes“, brachte aber erstmals die Burgenlandtrage ins Blickfeld der Friedensverhandlungen.
Ein weiterer Punkt in der Aufmerksamkeit der Verhandlungen war die Ausrufung einer Räterepublik in Budapest. Mit großer Besorgnis registrierte man das Vorrücken der „bolschewistischen Revolution“, die Lenin als einen ersten Schritt zur Machtergreifung in Europa im Sinne des Schlagwortes „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ propagierte. Um dies zu verhindern verstärkte man die Aufmerksamkeit auf „den hungernden Kleinstaat Österreich“, der möglicherweise ein ähnliches revolutionäres Schicksal erleiden könnte. Das Bestreben Wien abzusichern war mit ein Grund, dass man letztlich in den Verhandlungen im Sommer 1919, die zum Friedensvertrag von Saint-Germain am 10. September 1919 führten, das Burgenland Österreich zuordnete.
Die faktische Übergabe des Landes konnte aber erst nach Abschluss eines Friedensvertrages mit Ungarn erfolgen, wo ein gleichlautender Passus aufgenommen werden musste. Die nach dem Sturz der Räteregierung zur Macht gekommene rechtsgerichtete Regierung unter der Führung des Reichsverwesers Miklós Horthy versuchte mit allen diplomatischen und politischen Mitteln diesen Verlust zu verhindern. Jedoch scheiterten alle Versuche die inzwischen eingetretenen Spannungen zwischen den einst verbündeten Entente-Mächten auszunützen, doch waren diese – schon allein um nicht einen gefährlichen Präzedenzfall zu schaffen – nicht bereit, einen bereits unterzeichneten und ratifizierten Vertrag abzuändern.
Ungarn musste schließlich am 20. Juni 1920 den Friedensvertrag von Trianon wenn auch unter Protest unterzeichnen.
Um noch die bis zur endgültigen Ratifizierung des Vertrages durch alle Signatarmächte zu nützen versuchte man durch Pläne – wie zum Beispiel der Idee unter dem Titel einer „Donauföderation“ einen Kompromiss zu erlangen – das abzutretende Gebiet möglichst klein zu halten. Man mit Versprechungen von Zugeständnissen gewisser nationalen Sonderrechte für die deutsche und kroatische Volksgruppe, die aber schon seit dem Jänner 1919 immer wieder erfolgten, aber nie realisiert wurden. Unter hartem Druck auf Bürgermeister und andere Repräsentanten produzierte man Protestschreiben gegen den Anschluss. Diese Schreiben wurden aber weder bei den Regierungen noch in den Medien in Westeuropa zur ernsthaft Kenntnis genommen. Als schließlich die Botschafterkonferenz auf beharrliches Drängen Österreichs die ungarische Regierung ultimativ aufforderte das Burgenland bis zum 27. August 1921 zu räumen und der „Interalliierten Militärkommission“, die seit Juni in Sopron residierte, zu übergeben. Diese sollte am nächsten Tag das Land an die Österreicher weiterreichen. Budapest hatte damit keinen Ausweg mehr das Burgenland oder auch nur Teile davon auf Verhandlungswege behalten zu können und griff zu einem verzweifelten Ausweg, den bewaffneten Widerstand durch Freischärler. Man wollte damit der europäischen Öffentlichkeit vor Augen führen, dass die Burgenländer bereit seien sich sogar mit Waffengewalt gegen einen Anschluss an Österreich zu wehren. Selbst den fanatischesten Magyaren war es klar, dass der Großteil der burgenländischen Bevölkerung nicht im geringsten daran dachte, einen Guerillakrieg gegen die österreichischen „Okkupanten“ zu unterstützen, geschweige denn zu führen. So kam es, dass die späteren „westungarischen Aufständischen“ fast durchwegs aus Innerungarn geholt werden mussten. Mit Erfolg warb man vor allem in Kreisen arbeitsloser Berufsoffiziere, unter nationalistischen Studenten und in Flüchtlingslager, wo Vertriebene aus der Slowakei, aus Siebenbürgen und Kroatien hausten. Eine beträchtliche Schar von Abenteurern scharte sich um Gestalten wie die berüchtigten Freikorpsführer der „weißen“ Gegenrevolution, Pál Prónay, Iván Héjjas und Mihály Francia Kiss etc. Manche Abteilungen verdienten mit Recht die Bezeichnung „Banditen“, wie sie die Burgenländer verallgemeinernd apostrophierten.
Aus Militärbeständen bestens ausgerüstet griffen die Freischaren mit überlegener Macht die am 28. August ins umstrittene Gebiet einmarschierende österreichische Gendarmerie an und warfen diese in blutigen Gefechten hinter die alte Grenze zurück. Auf die energischen Proteste der Entente erklärte die Budapester Regierung, dass sie befehlsgemäß ihr Militär aus der zu übergebenden Zone zurückgezogen habe, aber gegen die dort entflammten „Aufstände“ machtlos sei. Um dies augenscheinlich zu machen, rief Pál Prónay am 4. Oktober in Oberwart den „selbständigen, unabhängigen und neutralen Staat „Lajta-Banat“ aus“, der aber selbst von nicht allen Freischärler-Führern voll anerkannt wurde.
Um endlich der total verfahrenen Situation ein Ende zu bereiten, ergriff Italien mit Zustimmung der anderen Entente-Mächte die Initiative um einen drohenden Grenzkrieg zwischen Österreich und Ungarn, die man in Rom beide als spätere Verbündete in einem möglichen Balkankonflikt sah, zu verhindern. Budapest war für neue Verhandlungen überraschend schnell bereit einer Vermittlungsaktion, die der italienische Außenminister Pietro Tomasi Marchese Della Torretta anbot, zuzustimmen. Mit Sorge hatte man nämlich registriert, dass ein Teil der Freischaren – insbesondere das Osztenburg-Detachement - unter dem „Deckmantel der Landesverteidigung“ für einen „Marsch auf Budapest“ rüste um die Rückkehr des im Schweizer Exil lebenden König Karl IV. auf den ungarischen Thron zu erzwingen. Nach dem ersten diesbezüglichen, aber gescheiterten Unternehmen zu Ostern 1921 versammelten die Anhänger des aus ihrer Sicht legitimen Monarchen entsprechende militärische Einsatzkräfte, um dem König mit militärischer Unterstützung eine neuerliche Thronbesteigung zu erzwingen. Dieser Versuch scheitere zwar wenige Wochen später, doch erzwang das Vorhaben, dass die Budapester Regierung so rasch wie möglich die „karlistischen“ Freischaren entwaffnen lassen müsste. Aus innenpolitischen Gründen war dies aber unmöglich vorzunehmen, bevor man nicht zu einer friedlichen Einigung in Form eines Kompromisses in der Burgenlandfrage kommen würde. Auch in Wien war man unter den gegebenen Machtverhältnissen und der katastrophalen wirtschaftlichen Lage nur allzu gerne bereit zu einer Lösung zu kommen. So trafen sich unter der Vermittlung des italienischen Außenministers sowohl der ungarische Ministerpräsident Graf István Bethlen und der österreichische Bundeskanzler Johannes Schober in Venedig, wo man schließlich nach langen Verhandlungen zu dem Kompromiss gelangte, dass Ungarn die Freischärler sofort entwaffnen und aus dem Burgenland entfernen werde, dafür aber Österreich auf Sopron verzichte. Da dies für die österreichische Seite, die das Burgenland einschließlich der vorgesehenen Hauptstadt Ödenburg in zwei Friedensverträgen zugesichert bekommen hatte, innenpolitisch kaum tragbar war, entschied man vertraulich, diesen Schritt durch eine Volksabstimmung zu maskieren. Es war allen Verhandlungspartnern, die am 13. Oktober das „Venediger Abkommen“ unterzeichneten, klar, dass unter den gegebenen Machtverhältnissen im Ödenburger Abstimmungsgebiet, die Volksabstimmung klar für den Verbleib bei Ungarn ausgehen würde, ja müsste.
Die ungarische Regierung machte dem „Operettenstaat“ Lajta-Banat ein Ende, entfernte sang- und klanglos die Freischärler und ermöglichte so die reibungslose Besitznahme des Burgenlandes durch das österreichische Bundesheer und den neuen zivilen Behörden. Sopron blieb nach der am 14./16. Dezember 1921 bei Ungarn, wobei 15.334 Stimmen gegen 8.227 Stimmen für den Verbleib beim alten Mutterland erzielt wurden.
Der endlich erzielte Kompromiss war für beide Seiten schmerzlich, aber zugleich eine „win-win-Situation“. Die prekäre Lage an Österreichs Ostgrenze war bereinigt, für die Burgenländer endlich der Anschluss an Österreich in Form eines eigenen Bundeslandes erfüllt. Ungarn war es gelungen durch die Rückgewinnung der Stadt Sopron, der man 1922 den Ehrentitel „Civitas fidelissima“ verlieh, zu gewinnen, aber darüber hinaus „einen ersten Schritt“ machen zu können, der verhieß, dass die schmachvolle „Trianon-Grenze“ nicht „für alle Ewigkeit einzementiert“ sei.
Aus heutiger Sicht darf man sagen, dass der Kompromiss in der Burgenlandfrage einer der wenigen Punkte der Geschichte nach 1918 war, wo die „Pariser Vororte-Verträge“ später nicht in verheerende Kriege, wie den Zweiten Weltkrieg, den Zerfall der osteuropäischen Staaten und den heute noch tobenden Kriegen im Orient auf dem ehemaligen Territorium des ebenfalls nach 1918 zerfallenen Osmanischen Reiches gemündet hätten.
Gerald Schlag