Ein friedliches, glückliches Neues Jahr!
Weihnachten 2021 war in der westlichen Welt durch eine schwere Bedrohung überschattet: Die Konfrontation zwischen der westlichen Welt und der Kreml-Führung war seit dem Kalten Krieg nicht so gespannt wie jetzt. Russlands Präsident Wladimir Putin beabsichtigte, durch eine neue Jalta-Vereinbarung die einstige sowjetische Einflusszone wiederherzustellen. Der Westen lehnte die Vorschläge zwar geschlossen ab, doch zeigten sich gewichtige Unterschiede in der Haltung. Angesichts der im Jänner begonnenen Verhandlungen ist zu hoffen, dass es zu keinem unanständigen Handel auf Kosten der Osteuropäer kommt und dabei auch die Unabhängigkeit der Ukraine erhalten bleibt.
Europa hat auch jenseits der russischen (und der anders gearteten, aber wenigstens genauso bestimmenden chinesischen) Bedrohung reichlich Sorgen. Seit einem Jahr wird eine öffentliche, aber lahme Diskussion über die Zukunft der EU geführt, die noch im ersten Halbjahr, unter der französischen Präsidentschaft, abgeschlossen werden muss. Wenn die Skeptiker Recht behalten, dann werden die Berge gekreißt haben und eine Maus auf die Welt bringen. Die Entscheidung wird durch die mehrfache Spaltung Europas erschwert. Die Zukunftsdebatte tobt zwischen dem Mainstream-Lager (auch Föderalisten genannt, aber in Wahrheit aus eine bunten Truppe von den Status-quo-Anhängern bis zu den Utopisten der Vereinigten Staaten Europas bestehend) und den sogenannten Souveränisten. Diese Gegensätze lassen sich nicht befrieden. Die einen argumentieren, dass Europa sene Interessen nur gemeinsam gegen die Weltmächte zur Geltung bringen könne, weil die einzelnen Länder des Alten Kontinents zu klein und zu schwach sind, um die globalen Herausforderungen zu bewältigen. Laut den Souveränisten gibt es keinen europäischen „demos”, also existiere auch keine europäische „Demokratie”, sondern nur ein bürokratischer Superstaat, der die Interessen der Eliten vertrete und den die Wähler längst nicht mehr kontrollieren. Ein Leitfaden zum Handeln wird grundsätzlich vom deutsch-französischen Tandem erwartet, weil die EU in früheren Krisen stets dann voranschreiten konnte, wenn es zwischen den beiden führenden Ländern Übereinstimmung gab. Es ist allgemein bekannt, dass es zwischen Präsident Macron und Kanzlerin Merkel hinter der herzlichen Fassade ernsthafte Meinungsunterschiede gab. Zwischen dem neuen deutschen Kanzler, Olaf Scholz, und Macron scheint die Chemie eher zu stimmen. Aber jetzt befindet sich der französische Präsident in der Lage der „lahmen Ente“. Seine früher sicher scheinende Wiederwahl könnte durch die streitbare Valerie Pécresse in Frage gestellt werden.
Was die Zukunft Europas betrifft, ist auch die ungarische Politik gespalten. Die Regierungsparteien vertreten den „Europa der Nationen“ genannten souveränistischen Standpunkt, während der oppositionelle Bund grundlegend dem pro-europäischen Mainstream nahesteht und den EU-Reformkurs unterstützt. Aber in Bezug auf die Vertiefung der Integration sind auch sie nicht einig. Bei den Parlamentswahlen am 3. April müssen die Ungarn mittelbar auch die Frage beantworten, welches Europa sie wollen und welchen Kurs die nächste Regierung vertreten soll. Aber die Wahlen in Ungarn haben auch eine über sie hinausweisende, europäische Bedeutung. Da Viktor Orbán eine der Führungspersönlichkeiten des Souveränisten-Lagers ist, kann sein Wahlsieg dieses Lager stärken und inspirieren. Seine Niederlage hingegen würde den Mainstream stärken.
Das bevorstehende Jahr ist voller Fragezeichen. Es gibt gleichzeitig günstige und ermutigende Vorzeichen bzw. Unglück verheißende Schatten. Seit dem Ende des Kalten Krieges waren die gewohnten Neujahrswünsche vielleicht noch nie so ehrlich und aus der Tiefe kommend: Wir wünschen Ungarn und Europa ein friedliches, glückliches Neues Jahr!
Original: Szent-Iványi István: Békés, boldog új esztendőt!