Ein Kulturvermittler zwischen allen Stühlen
Der Arzt und Dichter Karl Hugo
Die Umstände der Zeit und wohl auch auf Dauer seine eigene Verhaltensoriginalität aufgrund beständiger Zurückweisungen standen dem talentierten und hoch ambitionierten Karl Hugo, der mit eigentlichem Namen Karl Amber Bernstein (Börnstein) hieß, ein Leben lang im Weg: 1808 als Sohn armer jüdischer Eltern in Pest geboren und vom Vater für den Kaufmannsstand bestimmt, studierte er letztlich – trotz seiner schauspielerischen Ambitionen – auf mütterlichen Wunsch Chirurgie und trat aus Geldmangel sogar kurzfristig in den Militärdienst. 1830 schloss er sich – begeistert von der polnischen Revolution – der aufständischen Warschauer Armee als Stabsarzt an, geriet nach der Niederlage vorübergehend in russische Dienste und eröffnete schließlich in Pest eine Praxis. Von den homöopathischen Heilerfolgen bei der großen Choleraepidemie von 1830/31 enthusiasmiert, wurde er zum eifrigen Verfechter der Lehre Samuel Hahnemanns (1755–1843), den er mit einigen polemischen Schriften so leidenschaftlich verteidigte, dass dieser ihn 1838 als Gehilfen zu sich nach Paris lud. Doch hier übermannte ihn seine lang unterdrückte Theaterleidenschaft. Mit der wenig bescheidenen Absicht, die deutsche Bühne reformieren zu wollen, ging er nach Deutschland, stieß jedoch mit seinen damals maßlos überzogen erscheinenden Vorstellungen sowohl in Hamburg, wo er 1840 seine gesammelten Gedichte veröffentlichte und unter dem Namen „Bern aus Linz“ auf der Bühne debütierte, als auch in Berlin auf so massiven Widerstand, dass er sich 1841 in Wien als Arzt niederließ und auch hier vergebens versuchte, seine unterdessen entstandenen Dramen zur Aufführung zu bringen. 1844 gab er unter dem Titel Die große Fibel zwei Vierakter (Das Schauspiel der Welt und Der Stein der Weisen) in Druck und 1845 erschienen unter dem Titel Fibel der Ehre zwei weitere Vierakter (Des Hauses Ehre und Brutus und Lucretia), musste aber zu seiner Verbitterung erleben, dass seinem wesentlich bühnentauglicheren Anti-Tyrannenstück Brutus und Lucretia François Ponsards (1814–1867) Lucrèce vorgezogen wurde. Enttäuscht kehrte er 1846 ins heimatliche Pest zurück, polierte hier sein verschüttetes Ungarisch auf, veröffentlichte einen weiteren Gedichtband und schloss Bekanntschaft mit den ungarischen Bühnengrößen, dem Dramatiker, Schauspieler, Regisseur und Übersetzer Ede Szigligeti (1814–1878) und dem das ungarische Nationaltheater mitformenden Schauspieler Gábor Egressy (1808–1866), sowie dem Journalisten und Politiker Miksa Falk (1828–1908), die – von seinem Talent überzeugt – seine Stücke teils überarbeiteten und teils auch übersetzten. 1846 wurde sein Drama Egy Magyar Király im Nationaltheater so erfolgreich aufgeführt, dass es 1847 sowohl in ungarischer und – gedacht für die Deutsch-Ungarn – auch in deutscher Sprache gedruckt wurde. In weiterer Folge kam neben der deutschen auch die ungarische Version von Brutus und Lucretia zur Aufführung und wurde ein Riesenerfolg, und auch das auf einer Kurzgeschichte des französischen Schriftstellers und Historikers César Lecat Bazancourt (1810–1865) basierende Stück Baron und Bankier, 1859 gedruckt als Der Kaufmann von Marseille, ging als Báró és bankár erfolgreich über die Bühne. Im Zuge der in Europa anwachsenden revolutionären Stimmung ging er 1847 erneut als Arzt nach Paris, fand hier Förderung des Schriftstellers und Literaturkritikers Jules Janin (1804–1874), lernte auch den Komponisten Franz Liszt (1811–1886) kennen und verfasste in französischer Sprache La comédie infernale und L’Iliado finie, doch die geplante Inszenierung seiner Lucretia scheiterte letztlich am Ausbruch der Revolution. Nun setzte er sich begeistert für die Volkserhebung in Ungarn ein, kehrte 1849 kurz nach Hause zurück und wandte sich – nach Scheitern der französischen und ungarischen Revolution – nach Berlin, wo sein Stück Die Ehre des Hauses an der Königlichen Hofbühne erfolgreich aufgeführt wurde, was bei dem ohnehin zu leidenschaftlich verfochtenen Weltverbesserungsideen und überschießenden Übertreibungen neigenden Hugo nun zu einer zunehmend maßloser werdenden Selbstüberhebung führte, so dass es 1862 – aufgrund des Pamphlets Das gemaßregelte Genie: oder: Der göttliche Paria – zum Eklat und zu seiner Ausweisung aus Berlin kam. Ab da wurde er zum Reisenden in eigener Sache, indem er sich sowohl mit ‚cantomimischen‘ Vorstellungen seiner Dramen über Wasser hielt, daneben aber auch mit Pränumerationsspenden und der von ihm entwickelten ‚Hugologik‘, mittels der er im Pester Käseblättchen Die Fuchtel die Tagesgrößen seiner Zeit so lange aufs Korn nahm, bis sie bereit waren, ihn zu unterstützen. Er starb 1877, kurz vor einer seiner kostümierten Darbietungen in Mailand. Auch wenn ihm mit seinen dramatischen Werken kein dauerhafter Durchbruch vergönnt war und seinen späteren Auftritten immer ein Hauch von Skurrilität und tragischer Lächerlichkeit anhaftete, so wirkte er – allein aufgrund seiner Dreisprachigkeit – dennoch als Vermittler zwischen den Kulturen, in denen er jedoch nirgendwo auf Dauer Fuß zu fassen vermochte.
Obwohl das Drama Ein Ungarkönig niemals auf einer deutschsprachigen Bühne zur Aufführung gelangte, hatte Hugo hier mit seiner Hauptfigur mehr als nur einen vielschichtigen Charakter geformt. Sein großer Patriotismus wird vor allem an der Stilisierung des jugendlichen Mathias Corvinus zu einem ‚letzten Ritters der Magyaren‘ deutlich, der sich mit allen hochherzigen Rittertugenden, wie Verlässlichkeit, Mäßigung und Beständigkeit, Freigiebigkeit, Ehre, Frauenverehrung und Ehrerbietung, auszeichnet. Wechselnde Schauplätzen und eine Dramenhandlung über einen längeren Zeitraum weisen das Stück als offenes Drama aus: die ersten zwei Aufzüge fallen zeitlich in die Unrechtsherrschaft unter Ladislaus Postumus (1440–1457), während zu Beginn des dritten Aufzugs eine Wende eintritt, die schließlich schrittweise über Befreiung, Erhöhung und Bewährung zur Apotheose des Ungarkönigs führt.
Mathias` Vaterlandsliebe ist Teil der Familienehre der Corvinen: der große ungarische Nationalheld Johannes Hunyady (1408–1456) ist Vater von Mathias und Ladislaus, den beiden Corvinen. Mathias’ Freundestreue gilt nicht nur seinen ungarischen Verwandten und Verbündeten, sondern besonders seinem älteren Bruder, für den er sein Leben opfern möchte, sowie auch – alle Standesdünkel sprengend – dem weisen Hofnarren Kilian, in dessen Verkleidung und Rolle er schlüpft, um seine Feinde durch List zu täuschen. Damit steht er im eindeutigen Kontrast zu seinem Bruder und dessen edlem, wenn auch altertümlich-schwerfälligem Ritterbegriff, der in Zeiten des moralischen Verfalls, unter der Unrechtsherrschaft eines schwachen Königs zur tödlichen Falle wird. Ladislaus zerbricht an der Unvereinbarkeit von ‚sangue’ und ‚education’ eines echten Ritters aus dem edlen Geblüte der Hunyady mit ‚temps’ und ‚milieu’, den nun herrschenden Zeitumständen. Dies bleibt dem – für seine jugendlichen Jahre ungemein scharfsichtigen – Mathias nicht verborgen. Durch seine Unbestechlichkeit, Unnachgiebigkeit und Gerechtigkeit, selbst seinen eigenen begehrlichen Verwandten und Verbündeten gegenüber, enttäuscht der Knabe Mathias sehr schnell die in ihn gesetzten Erwartungen, dass er sich widerspruchslos, als schwächliche Marionette ins Ränkespiel der ungarischen Großen fügen werde. Seine Ablehnung von Nepotismus und Privilegien mutet dabei nicht so sehr revolutionär, als vielmehr josephinisch an. Leidenschaft, gezügelt durch politische Klugheit, Heldenmut, gepaart mit diplomatischem Geschick, Gerechtigkeit, geadelt durch Gnade, und christliche Gesinnung im ‚gerechten‘ Kampf gegen die türkischen Heiden machen ihn im Zusammenspiel von hoher innerlicher Reife und knabenhafter Unverbrauchtheit, lastender Pflicht und liebenswürdig-leichter Wendigkeit zu einem wahren ‚Liebling der Götter‘. Wenn der Edelknabe Mathias in die Rolle seines Freundes, des weisen Hofnarren Kilian schlüpft und im anmutigen Vexierspiel närrische Weisheiten verbreitet, verdeutlicht er glaubhaft die Umkehrbarkeit scheinbar festgefügter Standesgrenzen und rückt damit in unmittelbare Nähe des Küchenjungen Leon mit seinem liebenswert-beweglichen Mutterwitz in Grillparzers Weh dem, der lügt. Der Wortlaut seiner Wahlsprüche: „Die Freiheit einem Jeden!“ und: „Gerechtigkeit für Jeden!“, nimmt bereits die liberalen Parolen des Revolutionsjahres vorweg. Allerdings übertrifft Hugo mit seinem hier erarbeiteten Herrscherbegriff eines ‚Gefangenen seines Staates‘ die damals geläufige, dem Herrschaftsverständnis des aufgeklärten Absolutismus entsprechende Vorstellung von einem ‚ersten Diener seines Staates‘ um ein Beträchtliches.
Der im Stück angedeutete Zeitbezug bleibt jedoch unübersehbar: Hinter der Unrechtsherrschaft eines schwächlichen Ladislaus V. Posthumus, der eine Marionette seines üblen Ratgebers, des Palatins Ladislaus Gara ist, lässt sich unschwer der regierungsunfähige Kaiser Ferdinand ‚der Gütige‘ von Österreich (1793–1875) erkennen, der von seinen Regenten, Klemens Wenzel Fürst von Metternich (1773–1859) und Franz Anton Graf von Kolowrat (1778–1861), gegängelt wird.
Dass sich hier auch die scheinbar festgefügten Standesgrenzen als umkehrbar darstellen, wenn unversehens der adelige Ritter Mathias zum Selbstschutz den Narren mimt und närrische Weisheiten verbreitet, während der Hofnarr Kilian sich immer klarer, voll hohem Ernst und edler Würde als echter Weiser und eigentlicher Lehrer des zukünftigen Ungarkönigs entpuppt, zeugt – neben Hugos Patriotismus – auch von seiner egalitären Einstellung im unmittelbaren Vorfeld der Revolution von 1848.
Margarete Wagner