„Es gibt keinen Platz mehr zum Zurückweichen“

„Es gibt keinen Platz mehr zum Zurückweichen“
Foto: MTI

dr. Andor Nagy, Botschafter Ungarns in Wien, kehrt nach fünf Jahren heim

Herr Botschafter, Sie kamen 2018 fast genau zu jener Zeit nach Wien, als hier Aufregung um János Lázárs Video herrschte, das die Islamisierung der österreichischen Hauptstadt beweisen sollte. Wie haben Sie diese Situation wahrgenommen?

Ich habe diese Unzufriedenheit nicht wahrgenommen, obwohl sie mir bekannt war. Für mich persönlich ist meine Ankunft deshalb denkwürdig, weil ich in den frühen Morgenstunden des 22. August ankam und am darauffolgenden Wochenende im Stephansdom die Szent-István-Messe stattfand und mir die Möglichkeit geboten wurde, dort auf Ungarisch zu sprechen. Ich war noch voller Erinnerungen an Israel, an das Heilige Land, und ich habe vor allem darüber gesprochen. Wie sich herausstellte, hat das bei den Leuten einen Nerv getroffen. Und für mich war es ein sehr bewegendes, erhebendes Gefühl, vor Tausenden von Ungarn zu sprechen, mit der Tatsache konfrontiert zu werden, dass wir in der Lage sind, einen Stephansdom für einen Tag zu füllen – und das mit sehr schönen Inhalten. Ich habe Menschen in Trachten gesehen, die aus Österreich, aber auch aus den benachbarten ungarischen Siedlungsgebieten in größerer Zahl gekommen waren, und es war für mich ein sehr großes Erlebnis, und eine Gelegenheit, sozusagen meine Jungfernrede im Stephansdom halten zu dürfen. Ich habe sie in mein Tagebuch geschrieben, das ich seit meinem Amtsantritt als Botschafter in Israel führe.

Die Stephansmesse wurde vom Zentralverband der Ungarischen Vereine in Wieninitiiert, was einfach war, denn unser erster Präsident war ein Kapuzinerpater. Wir wussten, dass die Reliquie des heiligen Stephan im Dommuseum lag, und von dort kam sie für die Messe. Wie haben sich die Dinge von da an entwickelt?

Ich habe bewusst viel Energie in die ungarische Diaspora gesteckt, weil ich bald merkte, wie groß sie ist. Wir sprechen hier von mindestens 150.000 Menschen, die hier leben und arbeiten. Das ist eine kritische Masse, die größte Anzahl von Ungarn nach England und Deutschland. Ich habe auch recht viele ungarische Organisationen kennengelernt, nicht nur in Wien, sondern im ganzen Land, wo wir Honorarkonsuln haben, die ich besucht habe. Leider ist überall eine Art Frontstellung zu beobachten: Die Leiter der Organisationen bekämpfen einander. Aus der Sicht eines Botschafters ist das etwas bedauerlich. Es wäre ideal, würden alle an einem Strang ziehen. Ich habe Versuche in diese Richtung unternommen, zum Beispiel durch Veranstaltungen hier – aber mit der Bedingung, dass die hiesigen Ungarn zusammenhalten. In fünf Jahren sind mir nur Teilerfolge gelungen. Man muss feststellen, dass es Gegensätze gibt. Aber auch im Privatleben ist nicht alles perfekt. Man muss eben zusammenleben. Aber es ist gut, dass es so viele Organisationen gibt und dass sie so aktiv sind.

Es ist schwierig, Nachwuchs heranzuziehen...

Ich dnke, das ist eine natürliche Sache. Die jungen Leute von heute nutzen Facebook, sie haben ganz andere Ansprüche, sie wollen nicht unbedingt Organisationen beitreten. Die ungarischen Organisationen, die nach 1956 gegründet wurden, verändern sich mit der Zeit, sie spielen andere Rollen. Vielleicht werden sich auch die Gegensätze entschärfen. Ich sehe das nicht als Tragödie, ich habe keine Spannungen gesehen, die katastrophal wären.

Ich habe noch eine wichtige Beobachtung gemacht: Die Ungarn in Österreich haben sich zu Recht ein bisschen als Stiefkinder gefühlt im Vergleich zu den Ungarn im Karüatenbogen, weil alle sagen: Den nach Österreich gelangten Ungarn geht es sowieso gut, um die brauchen wir uns nicht zu kümmern. Das stimmt natürlich nicht, denn sie leben das gleiche Minderheitenleben und wollen das Gleiche wie die Ungarn in der Slowakei oder in der Ukraine oder in Rumänien. Die Situation ist heute besser als vor fünf Jahren, weil die Organisationen gesagt haben, dass man sich auch um sie kümmern muss.

Wir haben immer wieder gefordert, dass die ungarischen Organisationen in die bilateralen Beziehungen einbezogen werden. Auf österreichischer Seite geschieht das nie. Gibt es etwas, was man tun kann, um das zu ändern?

Beim Antrittsbesuch der ungarischen Präsidentin Katalin Novák waren Vertreter ungarischer Organisationen anwesend, die nicht von uns, sondern von der Präsidentschaftskanzlei ausgewählt wurden. Jedes Mal, wenn Laci Kövér [Präsident des ungarischen Parlaments, Anm.] kam, traf er immer ungarische Organisationen in Österreich. Aber der Einwand ist berechtigt, denn wir betrachten es in den österreichisch-ungarischen Beziehungen nicht als Faktor, mit den hiesigen Ungarn zu sprechen. Es gibt keine ungarische Schule, kein Unterrichtsgesetz in Wien: Es gäbe etwas zu besprechen. Und die Ungarn im Burgenland mögen jetzt nur noch ein paar Tausend sein, aber sie sind autochthone Ungarn, keine Einwanderer.

Um zurückzukommen, muss man sagen: Wenn sich die Ungarn untereinander nicht einigen können, dann hat ihre Stimme weniger Gewicht. Die österreichische Politik nutzt das aus und sagt: Wenn ihr euch nicht einigen könnt, was wollt ihr dann von uns? Auch deshalb wäre es logischer, mit einer Stimme zu sprechen...

Wie ließe sich eine Lösung vorstellen?

Ich habe bei mehreren Gelegenheiten im Zusammenhang mit der tschechischen Komenský-Schule gesehen, wie glücklich die Tschechen sind: Sie haben seit langem eine Schule, sie haben dort Organisationen, und sie haben ein Theater. Die Schulkinder werden Mitglieder der Organisation, und die Mitglieder melden ihre Kinder in der Schule an. Das ist ein guter Kreislauf, denke ich. Ich hatte angenommen, dass es nützlich wäre, ein solches Schulzentrum zu schaffen. Ich hatte auch die Aufgabe zu prüfen, wie eine Schule nach Muster des österreichischen Gymnasiums machbar wäre – aber leider hat die Finanzkrise dies verhindert. Wenn es uns gelänge, Schulen, Organisationen und ein Kulturzentrum an einem Ort unterzubringen, dann wären einige der Probleme gelöst. Es gibt dafür eine Referenz: Das österreichische Gymnasium in Budapest ist sehr gut.

In den bilateralen Beziehungen, die ausgesprochen gut sind, gibt es manchmal auch Tiefpunkte. Es ist nicht wirklich angebracht, darüber zu sprechen, wenn ein Botschafter sich verabschiedet, aber es ist auch nicht gut, sie zu übersehen. Davon gab es in den letzten Jahren einige, aber jetzt, wo Karl Nehammer österreichischer Bundeskanzler ist, sieht es so aus, als wären sich die beiden Regierungen in fast allem einig. Was tut ein Botschafter, um dies zu erreichen?

In der Botschaftertätigkeit gibt es, wie Sie sagen, manchmal Situationen, in denen man eine Aufgabe hat und vermitteln muss, weil es keinen Einklang gibt. Ich habe solche Situationen erlebt – ich erinnere mich zum Beispiel daran, dass während der Pandemie Ungarn seine Grenzen eine Zeit lang geschlossen hatte, weil man nicht wusste, ob die Länder Südosteuropas ihre Gastarbeiter aus dem Westen hereinlassen würden. Damals hat mich der jetzige Bundeskanzler, der damals Innenminister war, persönlich angerufen und gesagt, in Parndorf herrsche schon Stillstand, man müsse etwas tun. Ich rief Innenminister Sándor Pintér an, und sie konferierten sehr schnell. Nachdem wir uns überzeugt hatten, dass die Gastarbeiter heimreisen durften, haben wir die Grenze geöffnet. Als Botschafter kann ich sagen, ich hatte die beiden Personen, die die Situation lösen müssen, zusammengebracht. Und ich kann sagen: Wenn es in den letzten fünf Jahren ähnliche Situation gab, die gelöst werden mussten, dann haben beide Seiten Lösungen angestrebt. Es gab eben Situationen, die wir Ungarn anders erlebt haben als die Österreicher.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ja. Die österreichische Entscheidung, die Familienbeihilfe für nicht in Österreich lebende Kinder von Gastarbeitern zu kürzen – diese Indexierung war schwer zu ertragen, aber das war keine ungarisch-österreichische Angelegenheit, sondern kollidierte mit europäischem Recht.

In jüngster Zeit leiden wir unter österreichischen Aktionen, die dazu führen, dass bestimmte Grenzübertritte wie Schattendorf und St. Margarethe de facto gesperrt sind. Ich erwähne das, weil ich mich an Anrufe während der Pandemie erinnere, in denen es hieß: „Herr Botschafter, schließen Sie die Grenze nicht, denn dann können die ungarischen Ärzte und Krankenschwestern nicht mehr ins Burgenland kommen, und das burgenländische Gesundheitssystem bricht zusammen.“ Dann frägt man sich: Als es nötig war, haben wir geholfen – warum wird das jetzt gemacht?

Ich kann die Einheimischen verstehen, denn der zunehmende Verkehr ist dort ein Problem, aber für uns war es schlimm, dass sie die ungarische Seite nicht vorher konsultiert, sondern einfach die Grenze geschlossen oder den Übertritt beschränkt haben. Hoffentlich nur für eine Weile...

Welches Gewicht haben derartige Ereignisse?

Als Botschafter behalte ich lieber in Erinnerung, dass es Erfolge gibt. Natürlich kam es manchmal vor, dass unangenehme Dinge erledigt werden mussten, aber die Lösung genag fast immer, weil es auf beiden Seiten de Bereitschaft gab.

Sie waren Soros-Stipendiat – wie Viktor Orbán – und Sie haben in Berlin studiert. Sind Sie deshalb in die Diplomatie gewechselt?

Nein. Ich war Kabinettschef des Premierministers und zehn Jahre lang Parlamentsabgeordneter. Vor den Wahlen 2010 mussten alle Fidesz-Abgeordneten eine Erklärung unterschreiben, dass wir anerkennen, dass im Falle eines Wahlsiegs der Fidesz ab 2014 die Größe des Parlaments halbiert wird, weil es immer noch auf Großungarn zugeschnitten ist. Wer nicht ins Parlament gewählt wird, sucht sich einen anderen Job. Wir konnten sogar sagen, in welchem Bereich wir arbeiten möchten, wenn diese Situation eintritt. Da ich in Deutschland studiert hatte, konnte ich gut Deutsch und Englisch. Un ich habe mich schon immer für Außenpolitik interessiert.

2014 war ich Abgeordneter des Komitats Nógrád. Von den vier Wahlkreisen blieben zwei übrig, in denen dort lebende Leute kandidierten. Ich lebte in Budapest, also kandidierte ich nicht in einem der beiden Wahlkreise. Schon 2013 bekam ich das Angebot, als Botschafter nach Israel zu gehen, was ich sofort annahm. Ich war bereits zehn Jahre in der Politik tätig, also interessierte mich die diplomatische Laufbahn. Jetzt bin ich an deren Ende, und ich bereue nicht, dass mich das Leben in eine andere Welt als die der Politik geführt hat. Manchmal ist es interessanter, manchmal vermisse ich die Politik, weil man Teil des Entscheidungsprozesses ist. In der Diplomatie trifft man keine Entscheidungen.

Aber sie werden dort vorbereitet.

Ja. Und wir haben wirklich ein abwechslungsreiches Leben. Mit meiner politischen Erfahrung und den Kontakten hatte ich es leicht. Ich kannte einige Minister, und es war leichter, zu ihnen vorzudringen als für Botschafter, die nicht über dieses Netzwerk verfügten.

Was macht Andor Nagy als ehemaliger Botschafter nach der Heimkehr?

Wenn ich nach Hause komme, werde ich die diplomatische Tätigkeit beenden und in der Privatwirtschaft arbeiten. Ich habe einen Beruf, ich bin Anwalt, und ab September werde ich in einer Anwaltskanzlei namens Dentos arbeiten. Außerdem bin ich seit acht Monaten Vorsitzender des Aufsichtsrates des neuen Finanzinstituts Magyar Bankholding (MBH). Beide Aufgaben sind sehr interessant.

Dies ist Ihr drittes „Leben“...

Nun, ja. Zufälligerweise ist mein Arbeitsleben in Zehnjahreszyklen unterteilt – nicht freiwillig, sondern zufällig. Die Wechsel waren immer sehr schwer, weil man angefangen hatte, etwas aufzubauen, und plötzlich musste man eine völlig neue Linie einschlagen. Aber wenn man sich darauf einlässt und die Arbeit ehrlich und ernsthaft macht, funktioniert es früher oder später. Ich würde mich nicht operieren trauen, weil ich es nicht kann, aber ich sehe jetzt, mit sechzig Jahren, dass es in Ordnung ist, sich von Zeit zu Zeit zu verändern, weil man dadurch neue Energie bekommt. Man kann die in anderen Tätigkeiten gemachten Erfahrungen nutzen, wenn man es geschickt anstellt. In der Diplomatie hat mir viel geholfen, dass es mir leicht fällt Reden zu halten, mit Menschen umzugehen, auf Ungarisch, Deutsch oder Englisch, egal ob es sich um einfache Leute, Professoren oder Staatsoberhäupter handelt. Das gibt einem ein gutes Gefühl, ein gewisses Selbstvertrauen. Menschen, die keine anderen Berufe ausgeübt haben, haben das nicht. Hoffen wir, dass dies auch in der nächsten Phase meines Lebens der Fall sein wird.

Tja, ein Quereinsteiger hat den großen Vorteil, dass er mit einem viel größeren Schwung irgendwo hinkommt als jemand, der sich von unten nach oben "gedient" hat.

Eindeutig.

Das Bild von Ungarn im Westen ist viel negativer als die Situation dort. Wer die ungarische Sprache nicht beherrscht und Ungarn nur selten besucht, wird in seiner Meinung leicht beeinflusst, weil er die Geschehnisse nicht verfolgen kann.

Das ist wahr. Ich mache mir oft nicht die Mühe, den Wahrheitsgehalt zu überprüfen, wenn zum Beispiel etwas über den Sudan geschrieben wird. Das liegt in der Natur der Sache. Viele Journalisten vertreten die Meinung der ungarischen Opposition. Wir haben versucht, ein deutschsprachiges Forum zu schaffen, in dem wir die andere Meinung formulieren. Aber es hat sich herausgestellt, dass ich das als Botschafter nicht organisieren kann. Jetzt gibt es Initiativen wie das Ungarn-Forum, weil sich viele Ungarn, die seit Jahrzehnten in Österreich leben, daran stoßen – nicht einmal unbedingt wegen der Orbán-Regierung, sondern weil sie einfach stört, was über ihre Heimat geschrieben wird.

Da gibt es als konkretes Beispiel die Genderfrage: Die ungarische Regierung tut nichts anderes, als Organisationen, die Sexualkundeunterricht in Schulen fordern, den Zutritt zu verweigern. Sie sagen, dass dies Sache der Schulen und der Eltern sein sollte. Daraus leiten sie nun ab, dass Homosexuelle in Ungarn verfolgt werden. Das ist einfach nicht wahr! Auch in meiner Familie gibt es Beispiele dafür. Wir werden in eine Ecke gedrängt, wo man früher oder später ärgerlich und aggressiv wird. Es gibt keinen Platz mehr zum Zurückweichen.

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Andor Nagys Familie:

Ich habe vier Töchter. Franciska, die Älteste, 23, ist Balletttänzerin geworden. Sie machte ihren Abschluss an der Budapester Universität für Tanzkunst. Sie tanzte zwei Jahre lang hier in Wien beim Staatsopernballett und ist jetzt in Győr. Sie kommt regelmäßig nach Wien, weil ihr Freund hier tanzt.

Tochter Juli, die am Vörösmarty-Gymnasium maturiert hat, möchte Schauspielerin werden und studiert am Englisch-Fach des Theaters in der Josefstadt, wo sie diesen Sommer das erste Jahr des zweijährigen Kurses abschließt. Zuletzt spielte sie die Hauptrolle im Drama "Elektra".

Die Kleinen sind hier in eine deutsch-englische Volksschule gegangen, bewusst nicht in eine internationale Schule, weil wir dachten, dass sie mehr österreichische Kinder kennenlernen.

Sie sind jetzt zu Hause bei meiner Frau, die Geschäftsführerin eines Unternehmens ist und inklusive Israel über sieben Jahre gependelt ist. Letztes Jahr sagte sie, sie halte es nicht mehr aus. Die Familie beschloss, dass sie nach Hause gehen. Die Kinder besuchen eine ungarisch-englische Schule in Újpest.

Jetzt bin ich ein Jahr gependelt. Im Sommer fahre ich auch nach Hause.