Frühjahrsbrise in Ungarn
Vor ein paar Wochen war ich bei einem Kongress in Rom. Ich kam spät nach Hause, es war fast Mitternacht, als ich am Ferenc-Liszt-Flughafen in Budapest auf mein Gepäck wartete. Ich setzte mich hin und wollte nichts weiter als duschen und ins Bett gehen. Als ich dort saß, sah ich einen Aushang vor mir, ein großes Plakat. Familienfreundliches Ungarn. Dann schaute ich mich um und sah das gleiche Schild in Englisch, Italienisch, Französisch und einer Reihe anderer Sprachen. Familienfreundliches Ungarn. Ich wusste natürlich, dass dies vielleicht das wichtigste Programm der derzeitigen ungarischen Regierung war, aber das war mir egal. Opposition hin oder her, ich glaube, wenn ein Land familienfreundlich ist, ist es gut. Wenn es mein Land ist, ist es noch besser.
Dann kamen meine Koffer an, ich fuhr nach Hause und dachte nicht mehr daran. Ein paar Tage lang...
Ein paar Tage später erschien in einer Online-Zeitung ein Artikel darüber, dass der Präsident der Republik Ungarn anlässlich des Besuchs Seiner Heiligkeit Papst Franziskus in Ungarn im Jahr 2023 und zu seinen Ehren mehrere Personen begnadigt hatte, darunter auch den stellvertretenden Leiter einer Kinderschutzeinrichtung, der eine Strafe verbüßte. Sein ehemaliger Chef, der Direktor, wurde ebenfalls inhaftiert und verurteilt. Die erwiesenen Vorwürfe lauteten Kindesmissbrauch, sexuelle Gewalt und Pädophilie. Der Schulleiter hatte diese abscheulichsten Verbrechen, die ein Mensch begehen kann, begangen, sein Stellvertreter hat sie vertuscht, versucht, das Unveränderliche zu beschönigen und zu verändern. Um Pädophilie zu vertuschen. Dann wurde er begnadigt.
Von da an kamen die Nachrichten, Interviews, Enthüllungen, die Artikel lawinenartig. Es stellte sich heraus, dass ein missbrauchter Bub Selbstmord begangen hatte, weil er die Schrecken, die er erlitten hatte, nicht ertragen konnte. Sein ehemaliger Freund berichtete über die schrecklichen Details, und es stellte sich heraus, dass der begnadigte Häftling auch nach seiner Entlassung noch versucht hatte, die Meinung der missbrauchten Personen zu beeinflussen.
Die begnadigende Präsidentin war die erste weibliche Präsidentin Ungarns, eine mehrsprachige, intelligente Frau und Familienmutter. Sie sprach Spanisch mit dem Papst und Englisch mit dem Erfinder-Unternehmer, der als der reichste Mann der Welt gilt. Ich habe einmal an einer Debatte mit ihr in Berlin auf Deutsch teilgenommen, aber ich weiß, dass ihre erste Fremdsprache Französisch war. Sie war früher Ministerin ohne Portefeuille für Familienangelegenheiten, Schöpferin und Verfechterin des Programms Familienfreundliches Ungarn. Die Entscheidung der Präsidentin wurde von der ehemaligen Justizministerin gegengezeichnet, der einzigen Frau in der Regierung zu dieser Zeit.
Durch das Land fegte eine Welle der Empörung. Schock, Zorn, Wut. Unabhängig von der Parteizugehörigkeit empfanden alle eine tiefe Wut darüber, dass so etwas in unserem Land passieren konnte. Die dominierenden Akteure der virtuellen Welt Ungarns schlossen sich zusammen und riefen zum Protest auf, und aus der realen Welt folgten Zehntausende von Menschen, genauer gesagt mehr als 150.000, dem virtuellen Aufruf auf die Straße und füllten den Heldenplatz in Budapest. So viele Menschen hatte der legendäre Platz seit der symbolischen Umbettung von Imre Nagy nicht mehr gesehen.
Die Situation war schon vorher unhaltbar geworden. Die Präsidentin der Republik kündigte ihren Rücktritt an, die ehemalige Justizministerin, Listenführerin der größeren Regierungspartei für die Europawahlen, trat zurück, gab ihren Sitz im Parlament auf und kündigte ihren Rückzug aus dem öffentlichen Leben an. Das hatte sie vor.
Es kam anders.
In dieser zugespitzten Situation, in der das Land nicht nur unter einem politischen Skandal litt, sondern eine tiefe moralische Krise erlebte – und immer noch erlebt –, brach ein Interview mit elementarer Wucht in das öffentliche Leben Ungarns ein. Das in einer beliebten Interview-Sendung eines Online-Nachrichtenportals ausgestrahlte Interview wurde innerhalb weniger Stunden von Hunderttausenden, innerhalb weniger Tage von eineinhalb Millionen und innerhalb von zwei Wochen von mehr als zweieinhalb Millionen Menschen angeschaut. Der ehemalige Ehemann der zurückgetretenen Justizministerin, selbst Nutznießer des derzeitigen Machtsystems – Vorstandsvorsitzender eines staatlichen Unternehmens, Mitglied des Aufsichtsrats mehrerer Unternehmen und Banken – ließ das System hinter sich und erhob schwere Anschuldigungen gegen die Regierung, wobei er einige ihrer Mitglieder namentlich nannte. Er übergab der ungarischen Staatsanwaltschaft ein heimlich aufgezeichnetes Gespräch mit seiner ehemaligen Ehefrau, der Justizministerin (!), in ihrem eigenen Haus, legte ein Geständnis ab und machte die Aufnahme öffentlich. Er hat eine Bewegung gestartet, Demonstrationen organisiert und will eine Partei gründen.
Die Kommunikationsantwortr ließ nicht lange auf sich warten. In der Sendung eines bekannten Fernsehmoderators sprach die ehemalige Justizministerin fast zwei Stunden lang in einer Art Geständnis. Der Bericht enthüllte traurige und erschreckende Details einer Ehe, die auf den ersten Blick nicht durch ihren politischen Kontext betroffen machen, sondern grundlegende moralische Fragen aufwerfen. Es war die Mann-Frau-Beziehung eines Vorzeigepaars in der vordersten Reihe des öffentlichen Lebens, von der sich vor den Augen der Öffentlichkeit herausstellt, dass sie über lange Zeit eine missbräuchliche Beziehung war, während das Paar drei kleine Kinder großzog. Die erschütternde Nachricht wurde im ganzen Land publik, von politischen Analysten bis zu den Boulevardzeitungen, von TV-Nachrichtenprogrammen bis zu Internetforen wurde praktisch überall darüber gesprochen, sie floss, wie man sagt, aus der Wasserleitung.
Endgültige Schlussfolgerungen sollten noch nicht gezogen werden, weil diese Geschichte, die man eher als traurig denn als aufregend bezeichnen kann, nicht einfach zu Ende ist, sondern weiter geht weiter und sich ausweitet. Sicher ist aber, dass das erste Quartal des Jahres in Ungarn die schwerste moralische Krise der letzten eineinhalb Jahrzehnte in Ungarn gebracht hat. Im zweiten Quartal herrscht ab 20. April Wahlkampf, denn am 9. Juni finden in Ungarn am gleichen Tag Kommunal- und Europawahlen statt. Die Information und das Aufeinanderprallem verschiedener Ansichten könnten im guten Fall darum gehen, wer was über die Zukunft der eigenen Siedlung oder Stadt denkt. Parallel dazu ginge es um die grundsätzliche, entscheidende Frage, wer wie über das Verhältnis zwischen Ungarn und Europa denkt, wo er den Platz und die Rolle unseres Landes in der EU sieht und was er über die Zusammenhänge und Wechselbeziehungen zwischen Ungartum und Europäertum denkt.
Wer weiter sehen und in Prozessen denken kann, weiß, dass dies der eigentliche Kern der Sache ist. Man kann sich leicht vorstellen, dass er derzeit weniger Menschen anspricht und beschäftigt als die zuvor genannten Themen, aber es ist dennoch die Pflicht des verantwortungsvollen Denkens, darüber zu sprechen und zu schreiben. Schließlich haben die Wählerinnen und Wähler ein Recht darauf zu erfahren, welche Ziele, Pläne und Vorstellungen die zur Wahl stehenden politischen Gruppierungen, Parteien oder zivilgesellschaftlichen Organisationen haben. Das trifft auch dann zu, wenn heutzutage alle Umfragen zeigen, dass nicht der Kampf der Programme, sondern die Anziehungskraft oder Abstoßung von Persönlichkeiten ausschlaggebend für das Endergebnis ist.
Die Frage, wie sich die Ereignisse des ersten Quartals auf das zweite Quartal des Jahres und insbesondere auf die Wahlen am 9. Juni auswirken werden, kann heute noch nicht beantwortet werden. Aber sie wird auf jeden Fall starke Auswirkungen haben – nicht nur rational, sondern auch emotional und gefühlsmäßig.
Wir befinden uns Anfang April hier. In den letzten Wochen hat in Ungarn ein ungewöhnlich starker Wind geweht. Die Frühlingsbrise ist noch nicht abgeflaut und wird es laut politischer Meteorologie auch noch eine Weile nicht tun...
István Hiller
Original: Hiller István: „Tavaszi szél Magyarországon“