Historische Freundschaft und Zusammenarbeit
Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine hat die polnisch-ungarischen Beziehungen, die auch die treibende Kraft hinter der Visegrad-Zusammenarbeit sind, abgekühlt. Viele beginnen bereits, die polnisch-ungarische Freundschaft und damit die V4 zu begraben. Aber ist diese in Europa einzigartige Beziehung, die auf eine jahrtausendealte Tradition zurückblicken kann, wirklich zu Ende, oder handelt es sich nur um eine vorübergehende „Lächelpause“?
Laut einer Ende März durchgeführten Umfrage des polnischen Meinungsforschungsinstituts CBOS hat der Krieg die Empfindungen der Polen gegenüber anderen Nationen grundlegend verändert: Die größte Sympathie hegen sie jetzt für Amerikaner, Italiener, Engländer, Slowaken und Tschechen, während die Sympathie für Ungarn stark abgenommen hat.
Während wir 2022 noch unter den Top drei der polnischen Sympathie-Rangliste lagen (57%), sind wir heuer deutlich zurückgefallen: Nur noch 36% sehen uns positiv, während 27% uns stark ablehnen. Beobachtern zufolge ist die Verschlechterung des Images Ungarns vor allem auf die unterschiedliche Wahrnehmung des Krieges in der Ukraine und des Verhältnisses zu Russland sowie auf die einseitige und unvollständige Darstellung der ungarischen Position durch einen Großteil der polnischen Medien zurückzuführen.
Laut einer Umfrage der ungarischen Századvég-Stiftung vom März sind die Auswirkungen des Krieges auch unter den Ungarn zu spüren: Hatten 2019 noch 86 Prozent der Ungarn eine positive Sicht auf Polen, so ist dieser Anteil im März auf nur noch 73 Prozent gesunken. Trotzdem ist die Mehrheit der Befragten der Meinung, dass die Beziehungen zu Polen die besten unter den Visegrád-Ländern sind.
"Polen und Ungarn werden von Drittländern gegeneinander ausgespielt, vor allem in der Europäischen Union. Viele sind verärgert darüber, dass die beiden Länder sich gegenseitig ein Vetorecht zugesichert haben, falls Brüssel bei der Unterdrückung ihrer souveränen Politik zu weit geht. Sie versuchen, sie unterschiedlich zu behandeln, in der Hoffnung, dass sie aufhören, sich gegenseitig zu unterstützen", sagte Professor Maciej Szymanowski, Direktor des Waclaw-Felczak-Instituts für polnisch-ungarische Zusammenarbeit in Warschau, einer Schwestereinrichtung der ungarischen Felczak-Stiftung, im Interview mit einer polnischen Zeitung. Auf der jährlich stattfindenden polnisch-ungarischen Sommeruniversität, die ebenfalls vom Felczak-Institut in Krasiczyn (Polen), organisiert wurde, meinte Marek Kuchcinski, Präsident des Sejm (des Warschauer Parlaments) und heutige Leiter des Ministerpräsidentenamtes, der Krieg in der Ukraine setze die Freundschaft nicht außer Kraft setzt. Beide Nationen arbeiteten weiterhin in strategischen Fragen zusammen. „Es ist nicht wahr, dass es große Gegensätze zwischen uns gibt, das sieht nur in den Medien und in Kreisen, die unseren Regierungen misstrauen, so aus“, betonte der engagierte Verfechter der polnisch-ungarischen Freundschaft.
Kuchcinskis Chef, Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, der im vergangenen Sommer noch gemeint hatte, dass sich die Visegrád-Länder getrennt hätten, schlug später freundlichere Töne an. Seit am 24. November 2022 nach langer Pause ein V4-Gipfel der Regierungschefs in Kassa (Kosice) stattgefunden hat, wird trotz der Differenzen mit Budapest die Zusammenarbeit fortgesetzt, wo dies möglich und notwendig ist, insbesondere in den Bereichen Wirtschaft, Handel, Energie, Sicherheit und Bekämpfung der illegalen Migration, aber auch zwischen den Ministerien und über den Visegrád-Fonds. Auf dem diesjährigen Gipfeltreffen der V4-Ministerpräsidenten am 26. Juni wurden gemeinsame Interessen geortet. Diese sind die Bekämpfung der illegalen Migration, die Beschleunigung des EU-Beitritts der westlichen Balkanländer, die Position zum Green Deal der EU und die Frage der zollfreien ukrainischen Getreidelieferungen, die für Drittländer bestimmt sind, aber in den fünf EU-Mitgliedstaaten der Region – Polen, Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien – festsitzen und dort zu Schleuderpreisen verkauft werden, wodurch die lokalen Landwirte vom Markt verdrängt werden.
Während die zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen Ungarn und der Ukraine kühl sind, können jene zwischen Polen und der Ukraine geradezu als eng bezeichnet werden. Um des guten Verhältnisses willen ist Warschau sogar bereit, die ungelöste Frage der von ukrainischen Nationalisten während des Zweiten Weltkriegs an polnischen und jüdischen Zivilisten in Wolhynien und Galizien begangenen Massenmorde (im polnischen Sprachgebrauch Völkermord) „auf Eis zu legen“. Einen solchen Konflikt zwischen Ungarn und Polen hat es in der Geschichte noch nie gegeben.
Trotz eines stark restriktiven ukrainischen Bildungsgesetzes haben sich die Bildungsminister Polens und der Ukraine bereits 2017 darauf geeinigt, den nationalen Minderheiten des jeweils anderen Landes muttersprachlichen Unterricht zu ermöglichen. Im setzte das ukrainische Parlament die Verpflichtung zum Wechsel zum Ukrainischen für alle Minderheitenschulen, die in der Sprache eines EU-Mitgliedstaates unterrichten, um ein Jahr aus. Auch wenn dies als „Pyrrhussieg“ angesehen wird, stellt die Maßnahme doch ein gewisses Entgegenkommen dar und beruht möglicherweise auf einer gemeinsamen ungarisch-rumänischen Aktion zugunsten des muttersprachlichen Unterrichts für Minderheiten sowie auf der Stellungnahme der Venedig-Kommission (eines Gremiums von Verfassungsrechtsexperten des Europarats), wonach die neuen ukrainischen Minderheiten- und Bildungsgesetze „nicht in vollem Umfang“ den internationalen Standards entsprechen.
Die sozialen Beziehungen zwischen den beiden Ländern florieren weiterhin. Es gibt zwei große Institutionen der polnischen Gemeinschaft in Ungarn, den Polnischen Kulturverein József Bem und den St. Adalbert-Verein. Die Polen in Ungarn haben einen parlamentarischen Vertreter, das Polnische Institut in Budapest und das Balassi-Institut für Ungarische Kultur in Warschau sind aktiv. Dazu kommen viele polnische Selbstverwaltungen in Ungarn, Freundschaftsvereine, die Tourismusbeziehungen sind lebendig, und das Felczak-Institut veranstaltet Ende August ihre viertägige Leiterschulung, die Visegrád-Sommerakademie.
Péter T. Kovács