Hungarus-Bewusstsein und -Nation
Dieser Beitrag ist Erinnerung und Würdigung für den kürzlich verstorbenen Ambrus Miskolczy. Das Lebenswerk des großartigen Historikers trägt wesentlich dazu bei, Ungarns Geschichte besser zu kennen.
Geschichte ist kein Kochbuch. Sie funktioniert nicht so, dass wir sie bei einem vergangenen Ereignis aufschlagen, das einem heutige ähnlich erscheint, und nachschauen, was damals war, daraus einem Rezept gleich ablesen, wie sich die Zukunft gestaltet. Es ist nicht so, und es ist sogar sehr gefährlich und irreführend, wenn wir bei den Interpreten der Gegenwart diese Gaukler-Anwendung sehen, hören.
Hingegen gibt es sehr wohl langfristige Prozesse, die der großartige Franzose Fernand Braudel „long durée“, also „langanhaltend” nannte, also Veränderungen, welche sich durch Generationen verändern und wirken, unser Leben sogar sehr beeinflussen können. Zweifellos wahr ist zugleich, dass das Erkennen und Demonstrieren dieser Prozesse zu den schwersten und gleichzeitig großartigsten Aufgaben der Historikerzunft gehört.
Das Entstehen des Nationalbewusstseins, in unserem Fall das Zustandekommen der ungarischen Identität und ihr Beziehungssystem zu anderen ist so ein Prozess. Im konkreten Fall kann es kein anderes Ziel geben, als in diesem Jahrhunderte andauernden Prozess die Rahmenbedingungen und die wichtigsten Stationen aufzuzeigen, die Quellen von Einverständnis und Konflikten darzustellen sowie zu definieren, was abgeschlossen und was bis zum heutigen Tag offen ist.
Das Königreich Ungarn war praktisch seine gesamte Geschichte hindurch ein Aufnahmeland, aus eigenem Willen oder als Folge von Umständen auch unfreiwillig. So war dies infolge der Ermahnungen Stephans des Heiligen im ersten halben Jahrtausend, und auch danach. Es war so im Fall der vom ersten König geholten – nicht nur geduldeten – Ritter, Priester, später der Jazygen, Kumanen, Petschenegen. Aber entscheidend für das Entstehen der nationalen Identität ist die Zeitspanne nach Mohács.
Die Bilanz der osmanischen Herrschaft in Ungarn zog ernsthafte und niveauvolle fachliche Forschungen und Diskussionen nach sich. Die Geschichte ist bei weitem nicht so einfach, wie sie auf den ersten Blick zu sein scheint. Die Türken konnten nie die Gesamtheit des mittelalterlichen Ungarn unterwerfen, wobei festzustellen ist, dass dies gar nicht das Ziel war. Konsequentes politisches Ziel der Expansion war – laut den Feststellungen der ungarischen Geschichtsschreibung und Turkologie – die Besetzung Wiens. Und tatsächlich beweisen die Fakten dies, von Süleyman I. bis zum letzten Angriff 1683. Dabei riss die Ausbreitung der türkischen Herrschaft unter drei Sultanen das Land in drei Teile. Nach der traditionellen Interpretation wurde die Bewahrung der ungarischen Staatlichkeit ausschließlich durch das Fürstentum Siebenbürgen verkörpert. Doch ich anerkenne diese Ausschließlichkeit nicht. Ich bekräftige die Rolle Siebenbürgens bei der Bewahrung der ungarischen Staatlichkeit und beim Beharren seiner Besten auf der Idee der Wiedervereinigung des Landes, und behaupte dennoch, dass dieser Gedanke auch auf dem Gebiet des königlichen Ungarn lebte. Bei einer Reihe großartiger Denker und Entscheider war diese Zielvorgabe von Miklós Esterházy über Miklós Zrínyi bis Ferenc Rákóczi greifbar.
Doch das Bilanzieren ist keine Frage von Theorien. Die osmanische Machtausübung war in jenen Gebieten des einst einheitlichen Königreichs am wirksamsten, wo die ungarische Bevölkerung seit der Staatsgründung gelebt hatte: entlang der großen Flüsse, im Donau-Theiß-Zwischenland und in den Gebieten östlich und westlich. Die 1683 einsetzenden Befreiungskriege verursachten mehr als zwei Jahrzehnte lang logischerweise in diesen Gebieten die größten Zerstörungen. Auf dem Territorium des einstigen Königreichs Ungarn sank der Anteil der Ungarn, in die oft kaum bewohnten, von den Türken befreiten Gebiete zogen bewusst angesiedelte oder auch von der Zentralmacht unabhängige Zuwanderer. In vielen Wellen waren es nach kaiserlichen Aufrufen Deutschsprachige aus verschiedenen Teilen des Reiches, vor allem aus dem Süden und Südosten. Dazu Serben unter Leitung ihres Patriarchen. Über die rumänische Besiedelung in Siebenbürgen toben bis heute heftige fachliche Diskussion, deren Detaillierung nicht hierher gehört.
Jedenfalls ist festzuhalten, dass nach der ungarischen Geschichtsschreibung Rumänen in mehreren Wellen – teilweise noch vor Mohács, dann in großer Zahl nach den Befreiungskriegen – nah Siebenbürgen zogen, wodurch die ethnischen Verhältnisse um Größenordnungen verschoben wurden. Genau das ist entscheidend: Die osmanische Eroberung und deren Ende zeigen in unserem Zusammenhang eine eindeutige Bilanz. Nämlich: Auf dem Gebiet des Königreichs sank der Anteil der Ungarn, stieg jener der nichtungarischen Bevölkerung – so weit, dass schließlich die Gesamtzahl letzterer jene der Ungarn überstieg. Diese Tatsachen sind zweifelsfrei der Grund für spätere Ereignisse. Aber es ist so leicht, aus heutiger Sicht die Vergangenheit zu beurteilen oder gar zu verurteilen. An der Geschichtsforschung ist eben großartig und zugleich erhebend, dass die zeitgenössischen Prozesse nicht an aktuellen Interessen gemessen werden müssen, sondern in ihrem damaligen Zusammenhang. Daraus sind auch die späteren Prozesse erklärbar.
Hungarus – in unserer heutigen Denkweise ist dies ein seltsamer Begriff, als würde er bedeuten, dass Ungar sei, wer in Bezug auf Abstammung und Vorfahren Ungar sei. Doch dieser Begriff enthält nicht das, sondern genaugenommen mehr. Hungarus ist ein Sammelbegriff, signalisiert Gemeinschaft: Es war die Sammelbezeichnung aller, die dem Königreich Ungarn angehörten. Wer Untertan der Heiligen Krone war, Adeliger, Bürger, Leibeigener, in anderer Hinsicht ungarisch-, deutsch-, serbisch- oder slowakisch-sprachig, jüdisch, rumänisch, kroatisch – sie alle gehörten zur Gruppe der Staatsangehörigen. Das bezog sich sowohl auf die Einhaltung der Normen des Zusammenlebens als auch auf Konflikte. Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich möchte die damalige Situation keineswegs idealisieren, es gab wahnsinnige Konflikte, die beispiellose Beschränkung der Rechte der zuvor einheitlichen Leibeigenen, Werbőczy – dann Zusammenstöße, Aufstände, Pogrome aufgrund von religiösen Spannungen, später Vermögensstreitigkeiten. Ja, diese gehören ebenso zu unserer Geschichte wie die für rühmlich gehaltenen Ereignisse, Zeiträume. Doch der grundlegende Auslöser der erwähnten Konflikte war nicht die ethnische Zugehörigkeit, weil das nicht das Fundament der individuellen oder Gruppenidentität war. Zum besseren Verständnis sei an diesem Punkt ein Ausflug in die heutige Denkweise erlaubt: Sind Sie böse auf Ihren Nachbarn, der evangelisch ist, während Sie katholisch sind? Oder Baptist, oder Kalvinist? Haben Sie Sorgen, wenn Sie morgens beim Verlassen Ihrer Wohnung den anderen treffen? Wahrscheinlich nicht, wenn Sie die Tatsache überhaupt kennen.
Es ist keineswegs zu behaupten, dass es in früheren Zeiten keine Bedeutung hatte, mit welcher Nationalität man geboren wurde, welche Sprache die Mutter nutzte. Aber entscheidend war nicht diese Kategorie. Das Leben, die Denkweise und die Zukunftsaussichten wurden wesentlich stärker von den „Klassen“ katholisch, reformiert, adelig, bürgerlich, leibeigen bestimmt als durch andere Dinge. Hungarus bedeutete nicht Trennung, Ausschließlichkeit, sondern viel eher Beziehung, Verbindung. Die Veränderung trat nicht von einem Augenblick zum anderen ein, nicht einmal unter dem Eindruck eines noch so bedeutenden historischen Ereignisses. Sie war das Ergebnis eines langen, eineinhalb bis zwei Jahrzehnte umfassenden Prozesses, der seither von einer ganzen Reihe bedeutender Forscher geprüft wird. Die Nationswerdung, das Entstehen der nationalen Identität, ist nicht nur in unserer Geschichte, sondern auch im Fall jeder anderen Nation komplex und konfliktgeladen. Es begann damit, dass die ungarischen Peregriner – Studenten an ausländischen Universitäten – eine eigene Gruppe bildeten und nicht wollten, dass sie nach der damaligen Kategorisierung der natio Germanica zugezählt wurden. Sie nannten ihre Gruppe natio Hungarica. Und es war ein langer Weg bis zum Entstehen der Hymne, zur Reformära und den späteren Abschnitten des 19. Jahrhunderts.
In jeweils anderer Form und in anderem historischem Rhythmus, aber ebenso kompliziert ist dies auch bei anderen. So war dies bei den Serben, den Slowaken, den Rumänen, den Kroaten und bei fast allen später zu Nationen gereiften Völkern, die einst auf dem Gebiet des Königreichs Ungarn, des Habsburger-Reiches und dann der Doppelmonarchie gelebt hatten. In sich selbst, einzeln sind es auch hervorragend wichtige und spannende historische Prozesse, aber aus unserem Blickwinkel ist die wichtigste Frage das Zusammenleben und die Auflösung von dessen Rahmen.
Der Sammelbegriff hungarus hat sich im Prozess der Nationswerdung aufgelöst, genauer: in jenem Prozess, in dem ins neue Identitätszentrum bereits die Zugehörigkeit zu einer Nation vorrückte. Das nationale Selbstbewusstsein, die Zugehörigkeit zur jeweiligen Nation wurde wichtiger als die früheren Anknüpfungspunkte. Zusätzlich ging es auch um eine Selbstdefinition, die sich gegen die Nation und Politik an der Staatsmacht richtete, und auf diese Herausforderung gab es keine entsprechende Antwort. An diesem Punkt muss auf die demografische Bilanz der osmanischen Herrschaft in Ungarn verwiesen werden. Die beiden Prozesse – die Nationswerdung und die Umgestaltung der demografischen Verhältnisse im Karpatenbecken – führten gemeinsam zum Entstehen eines neuen Mitteleuropa.
Sollten wir jedoch denken, dies alles sei die historische Vergangenheit, dann irren wir gewaltig. Braudels bereits zitierte Zeitraum-Theorie gemahnt genau daran, jene Umgestaltungen zu sehen oder zumindest zu sehen zu versuchen, die auch in unserem Leben wirken, auch wenn sie in den täglichen Nachrichten nicht vorkommen. Die Zukunft der Nationen, die Rahmen und Regeln des Zusammenlebens gehören zu den wichtigsten Fragen des heutigen Europa. Ungar und Europäer, Österreicher und Europäer, Tscheche und Europäer – die Aufzählung könnte fortgesetzt werden – betonen jeweils das Wörtchen „und“. Vermag uns im Zusammenleben der europäische Rahmen zu verbinden? Sind wir unter Beibehaltung des nationalen Selbstbewusstseins in der Lage, gegenseitig in der Positionierung der anderen die darin steckenden Vorteile zu sehen, besonders nachdem wir den neuen organisatorischen Rahmen geschaffen haben?
Diese Fragen sind schon die brennenden Probleme unseres Zeitalters, unserer Gegenwart. Wenn wir die Vergangenheit nicht bloß als Referenzpunkt betrachten, sondern die Zusammenhänge zu sehen versuchen, haben wir eine größere Chance auf die richtige Antwort. Und das ist tatsächlich unser aller gemeinsames Interesse. István Hiller
Original: István Hiller: „A hungarus tudatról és nemzetről”