Lagebericht aus Uschhorod

Lagebericht aus Uschhorod


Der totale russisch-ukrainische Krieg hat nun den 15. Monat seit seinem Ausbruch hinter sich, und es sieht – leider – nicht so aus, als wäre es das letzte Datum der an den Geist des früheren französischen Revolutionskalenders gemahnenden ukrainischen Zeitrechnung. Die Kampfhandlungen fordern täglich riesige Opfer, machen das Leben der Massen unmöglich oder löschen es aus. Und ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht. Sicher erscheint nur, dass die Situation an der Front in den (am 19. Juli beginnenden) Hitzemonat „Thermidor“ übergeht…

Werfen wir einen Blick auf die eigene Erfahrung, wie sich das Leben im Karpatenbogen in den letzten 15 Monaten verändert hat. Zum ersten Mal seit Ausbruch des Krieges hatten wir die Möglichkeit, in der Ukraine Archivrecherchen durchzuführen, und zwar in der Außenstelle Uschhorod der Transkarpatischen Staatlichen Bibliothek. Dies ermöglichte uns einen Einblick in das Alltagsleben in der von der ungarischen Minderheit Ungvár genannten Stadt.

Die westlichste Region der vom Krieg zerrissenen Ukraine kann weiterhin als Insel des Friedens betrachtet werden, wobei auch hier die Auswirkungen des Kriegs scharf zutage treten. Am Grenzübergang Záhony-Csap, wo in Friedenszeiten eine Armada von Autos mit den verschiedensten Kennzeichen alltäglich ist, sind fast nur noch ukrainische Kennzeichen zu sehen, mit vereinzelten ungarischen dazwischen. Auch die endlosen Warteschlangen an den Grenzübergängen vom Vorjahr fehlen, denn in Wahrheit streben wesentlich mehr Menschen in die Ukraine als hinaus, vor allem Senioren, Frauen und Kinder. Dahinter könnte die Tatsache stehen, dass die Karpato-Ukraine zu einem Treffpunkt für viele Ukrainer geworden sind. Hier begegnen einander in den Westen ausgereiste Flüchtlinge und Angehörige, die in den inneren Regionen geblieben sind.

Vom Krieg zeugen nicht in erster Linie die in großer Zahl wehenden ukrainischen Fahnen und die Rekrutierungsplakate, auch nicht die neuen Soldatengräber auf dem Kalvarienberg-Friedhof oder die gelegentlichen Luftschutzsirenen, die zum Alltag gehören, sondern die Fehlen von Männern. Es gibt nur wenige zwischen 18 und 60 Jahren – und wenn, dann sind es in der Regel Soldaten, die im Kurzurlaub Zeit mit Frau und Familie in einem Restaurant verbringen. Anderswo setzt die auf dem Balkon der Plattenbauwohnung trocknende Tarnjacke einen Akzent. Ebenfalls auf die Abwesenheit der Männer weisen die verlassenen Häuser und ungeordneten Höfe in den Nebengassen der Stadt hin, und auch die vielen herrenlosen „Jedermanns“-Hunde. Im Angebot der Restaurants und Geschäfte
ist der Krieg kaum präsent (höchstens in der Zahl des Personals). Eine ganz andere Sache ist es, dass die einst als günstig geltenden ukrainischen Preise in diesen 15 Monaten Anschluss an die EU gefunden haben. Dasselbe lässt sich über die Löhne nicht annähernd sagen.

Trotz all dieser Sorgen ist allenthalben spürbar, dass die Region wenn auch gebrochen, aber leben will. Auch die Bildungs- und Forschungseinrichtungen der Komitatshauptstadt sind voller Leben. An der Nationalen Universität Uschhorod läuft seit Mitte Mai eine Veranstaltungsreihe anlässlich des 60-jährigen Bestehens der ungarischsprachigen Hochschulbildung in der Karpato-Ukraine.
Dies hat unter den gegebenen Bedingungenmehr Bedeutung als früher. Viele Angehörige der ungarischen Minderheit bleiben im Schatten des Krieges in der Heimat. Während die Führungen der beiden Länder zunehmend giftiger werdende Diskussionen führen, kämpfen die Menschen auf ihre Weise um den Erhalt der ungarischen Kultur und – wie die ukrainischen Landsleute – um die Aufrechterhaltung der Wirtschaft. Es bleibt nur zu hoffen, dass das möglichst baldige und nachhaltige Ende des Krieges in der Karpato-Ukraine den Frieden und den rückblickend relativen Wohlstand wiederbring.


Renáta Paládi