Mit ungewählten Worten vor den Wahlen

Mit ungewählten Worten vor den Wahlen

  Die vergangene Wahlperiode hat viele politische Machenschaften ans Tageslicht gebracht, die das ohnedies nicht felsenfeste Vertrauen der Bürger in die Politik beträchtlich erschüttert haben. Die Leichtgläubigen sind schon der meinungsformenden Unterstellung aufgesessen, dass im Parlament Personen sitzen, deren menschliche und politische Fähigkeiten wertlos sind. Als die öffentliche Meinung unter dem Gewicht der Verdächtigungen ins Wanken geriet, reiften ernstzunehmende Tatsachen oder übertriebene Versionen davon heran und verschärften die Situation.

   Es kann also nicht überraschen, dass wir die Bürgerinnen und Bürger vor den Wahlen dazu ermuntern, zu allererst jeden Anschein von Kadavergehorsam abzulegen und sich ihre Meinung allein aufgrund von Fakten zu bilden, zu denen in erster Linie der feste Wille zur Stimmabgabe gehört. Denn sagen wir es ruhig: durch Murren und Stimmungsmache gegen die Wahlen untergraben wir landesweit das Vertrauen in das öffentliche Leben noch weiter. Akzeptieren wir, dass unsere Politiker zwar keine (Halb-)Götter sind, die einen Eid geschworen haben, das Volk zu vertreten; aber sie sind auch keine Figuren der Unterwelt. Es ist ebenfalls selbstverständlich, all jene auszusondern, die Anlass zum Verdacht geben, aber das ist ausschließlich Sache der Urteilskrkaft der Bürger. Dazu gibt es allerdings nur dann Gelegenheit, wenn wir uns mit fundierten Kenntnissen ein Bild von denjenigen machen können, die verantwortungsvoll die Interessen des Volkes vertreten. An diesem Punkt kommt die notwendige Differenzierung ins Spiel. Es nützt keine Einigkeit in grundsätzlichen Fragen, wenn diese durch Partialinteressen aufgelöst wird, und das so weit, dass die Gegensätze den sozialen Frieden nicht nur erodieren, sondern geradewegs gefährden. Ohne sozialen Frieden steht aber die Existenz des Staates auf dem Spiel. In solchen Momenten pflegt man von Kompromissbereitschaft zu reden, die nicht mit Kompromissfähigkeit verwechselt werden darf. Und so kommen wir zum Prüfstein der Demokratie. Wenn es über die Grundwerte hinaus keine einheitlichen Standpunkte gibt, diese gar unvorstellbar sind, wo soll man dann Trennlinien einziehen, die niemanden ausschließen? Das ist nur so vorstellbar, dass es eine jede Person und alles einschließende Einheit gibt, innerhalb der das Anderssein seine Berechtigung hat, so sehr, dass die eigene Existenz abweichende Existenzen annimmt, ja sogar als gleichberechtigt und gleichrangig akzeptiert.

  In diesem Kompromiss steckt die Chance zur Überbrückung der verschieden ausgeprägten Unterscheidungen der (politischen) Parteien, die oft aus unüberbrückbaren Differenzen in Fehden ausartet. Deshalb kann es nicht schaden, daran zu erinnern, dass die Bezeichnung Partei vom lateinischen pars, partis stammt, das prinzipiell Teil (und nicht Ganzes) bedeutet. In einer reifen, ausgeglichenen Demokratie ergänzen einander die partiellen Interessen der einzelnen Parteien, denn ihre Zielnsetzungen, Bestrebungen auf dieser Überzeugung basieren, und sei es unter Betonung des edlen Wettstreits. Keine Farbschattierung bleibt unberücksichtigt, sofern sie auf dem Prinzip der Komplementarität beruht. Die Probleme beginnen, wenn Teilinteressen über das Ganze gestellt werden und damit jedes andere Interesse ausgeschlossen wird.

  Solche Idealzustände kann man bekanntlich anstreben, aber kaum zu erreichen. Sokrates verwies auf die Weisen und schlussfolgerte: Lasst die Weisen die Könige, aber umgekehrt gilt auch: Lasst die Könige weise sein. Vergessen wir nicht, wenn wir von Gemeinschaft und Gesellschaft sprechen: Jeder Mensch ist als Person auf erwähnte Weise Teil und Mitglied des Ganzen, und daher von allem betroffen, das die gesamte Gesellschaft betrifft. Er kann sich also nicht von den Angelegenheiten und Dingen der Gemeinschaft abkoppeln. Deshalb sagte der griechische Weise, dass derjenige, der sich nicht für die Angelegenheiten seines Staates interessiert, ein schlechter Bürger ist.

   Wenn wir uns mit Fragen der politischen Führung befassen, können wir die immer weiter um sich greifende Auffassung nicht außer Acht lassen, dass der Wähler letztlich in die Rolle des Statisten gedrängt werden könnte. Falls diese Gefahr besteht, muss umso mehr darauf geachtet und daran erinnert werden, dass Politiker für ihr Handeln verantwortlich sind und daher zur Rechenschaft gezogen werden können. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Machtausübung: Sind die (parlamentarischen) Parteien die Hüter dieser, oder diktieren oft kaum durchschaubare Interessengruppen den Takt. Es mag auch noch so peinlich sein: Die Politiker spielen in nicht nur einer Hinsicht die Rollen von Statisten.

   Wie immer es auch ist: Wir dürfen wir uns inmitten von Argumenten und Gegenargumenten, Widersprüchen und Gegensätzen nicht in die Gleichgültigkeit des Außenstehenden hinablassen. Wir müssen wissen, dass das aus jeder einzelnen Stimme resultierende Endergebnis darüber entscheidet, welche Art von Regierung das Land haben wird. Es mag Enttäuschungen geben, aber niemand ist davon befreit, wenn er der Wahlurne fernbleibt und hinterher argumentiert, dass nicht seine Stimme den Ausschlag dafür gegeben habe, aus welchen Farben sich das Parlament zusammensetzt und welche Interessen die Regierung steuern. Der Mensch schläft als Stimmbürger besser, wenn er weiß: Ja, meine Stimme ist im Endergebnis enthalten, und dass er mit wenigstens einer Stimme die Demokratie hochleben lässt, die in ihrer Unvollkommenheit den größten Wert darstellt, nicht nur in politischer Hinsicht.

Pannonicus