Polen, Ukraine, Rumänien
Bevölkerungen im Wandel, Bedingungen im Wandel
Nur wenigen Menschen kommen die polnisch-ukrainischen Beziehungen den ungarisch-rumänischen ähnlich vor. Dabei war Polen (also gut, die Rzeczpospolita, die Polnisch-Litauische Union, 1569-1795) einst viel größer als heute, ebenso wie Ungarn. Es umfasste nicht nur das Großherzogtum Litauen (als Partnerland), sondern auch den südlichen Teil des Baltikums und den westlichen Teil der heutigen Ukraine mit der Stadt Lemberg (Lwów/Lviv) bis hin zur Krim. Der Adel sprach überall polnisch, während litauisch und ukrainisch hauptsächlich von ungebildeten Bauern gesprochen wurden, für diese beiden Sprachen gab es keine geschriebene Literatur. Im östlichen Teil Galiziens, der bei der Aufteilung des Landes an Österreich kam, waren die Bauern Ukrainer (Ruthenen), die Großgrundbesitzer Polen und die Stadtbewohner hauptsächlich Polen und jiddisch sprechende Juden. Der ungarische Ausgleich sicherte auch Galizien beträchtliche Autonomie zu; die politische Macht lag weitgehend in den Händen der polnischen Aristokratie und des Adels (szlachta). Durch das wachsende Nationalbewusstsein entstanden immer stärkere Spannungen zwischen den Polen und den Ukrainern, ebenso wie zwischen Ungarn und Rumänen.
Der Führer des wiederentstandenen Polen Ende 1918, Marschall Pilsudski, versuchte eine polnisch-litauisch-ukrainische Föderation (Międzymorze, Intermarium) zu gründen, die das heutige Belarus (Weißrussland), Lettland und Litauen umfasst hätte. Aber die Sehnsucht nach nationaler Unabhängigkeit war stärker als die Aussicht auf eine multinationale Großmacht. In der Polnischen Republik, die zum Abschluss des polnisch-sowjetischen Krieges durch den Friedensvertrag von Riga (1921) entstanden war, waren nur knapp 70% der Bevölkerung Polen, die Ukrainer zählten fast 5 Millionen, und neben eineinhalb Millionen Weißrussen machten die separat gezählten 2,7 Millionen Juden 8,5% der Bevölkerung aus. Parallel dazu waren in Großrumänien nur 72% Rumänen, dazu kamen 9% Ungarn und je 5% ethnische Deutsche und Ukrainer.
Es ist bekannt, dass Polen aufgrund des Molotow-Ribbentrop-Pakts (laut Molotow die Missgeburt des Vertrags von Versailles) erneut aufgeteilt wurde, wobei Ostpolen von der Sowjetunion annektiert wurde. Weniger bekannt ist, dass bis zum deutschen Angriff im Juni 1941 aus diesem Gebiet eineinhalb Millionen Polen (darunter viele Juden) unter unmenschlichen Bedingungen nach Sibirien deportiert wurden, wobei die Hälfte ums Leben kam. (Der Bevölkerung der baltischen Staaten erging es nicht besser.) Die heutige Ukraine wurde zum Kriegsschauplatz, erlitt enorme menschliche und materielle Verluste. Zwischen 1942 und 1944 kämpften die ukrainischen nationalistischen Partisanen (UPA, angeführt von Bandera) gleichzeitig gegen die Deutschen, die Sowjets und die Polen. Fast 100.000 Polen wurden im Interesse der „Verbesserung der ethnischen Proportionen“ ermordet. Am Ende des Krieges siedelten die sowjetischen Behörden die verbliebene polnische Bevölkerung aus den von Polen annektierten Gebieten in das nach Westen verschobene Polen um.
Nach einer solchen Geschichte gebührt den Regierungen Ostmitteleuropas, die dank der Systemwechsel unabhängig wurden, alle Achtung, dass sie die alten gegenseitigen Kränkungen überwanden, Frieden schlossen und die von den Großmächten (vor allem der Sowjetunion) gezogenen Grenzen in bilateralen Verträgen festschrieben. Im Gegensatz zum ungarisch-ukrainischen und zum ungarisch-rumänischen Vertrag wurden in Polen keine Emotionen frei, als Verträge mit Litauen und der Ukraine abgeschlossen wurden, obwohl diese Staaten auf Gebieten entstanden, die einst zu Polen gehört hatten.
Die russische Aggression gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 schuf eine neue Situation in den polnisch-ukrainischen Beziehungen. Schon zuvor war rund eine Million ukrainische Gastarbeiter in Polen tätig, jetzt kommen mindestens drei Millionen Flüchtlinge hinzu. Diese wurden vorbildlich schnell integriert, bekamen Arbeitsplätze zu deutlich höheren Löhnen als in der Ukraine und erhielten sogar Wohnungen und Schulen. Der geringe Sprachunterschied garantiert, dass die große Mehrheit von ihnen auch nach Kriegsende nicht in die Ukraine zurückkehren wird, was die polnische Wirtschaft weiter stärkt, die wesentlich dynamischer ist als die ungarische. Noch wichtiger ist die politische und militärische Unterstützung, die Polen dem heroischen Selbstverteidigungskampf der Ukraine zukommen lässt. Die modernen Waffen aus NATO-Ländern gelangen zum überwiegenden Teil über Polen in die Ukraine.
Die enge Beziehung der Präsidenten Duda und Zelensky ist ein gutes Symbol für das Verhältnis der beiden Länder, die nun zu Recht als Schwesternationen bezeichnet werden. Der hoffentlich baldige Frieden wird die Unabhängigkeit der Ukraine stärken und sie auf den Weg zu einer EU- und sogar NATO-Mitgliedschaft bringen. Von den Vereinigten Staaten und vom Vereinigten Königreich begrüßt und unterstützt, könnte Pilsudskis Traum Wirklichkeit werden und ein polnisch-ukrainisches Bündnis entstehen, welches das politische, militärische und wirtschaftliche Gesicht Europas radikal verändert. Rumänien leistet der Ukraine ebenfalls beträchtliche Unterstützung und vertieft gleichzeitig seine militärische Zusammenarbeit mit der NATO und deren Führungsmacht. Dies erhöht das Gewicht und den Einfluss dieser drei Länder weiter.
Es ist zu befürchten, dass die ungarische Haltung im Krieg das ungarisch-ukrainische Verhältnis weiter belastet – zu einem entscheidenden Maß eine Folge der jüngsten intoleranten Minderheitenpolitik der Ukraine, der Beschränkungen für den muttersprachlichen Unterricht der Minderheiten. Im Gegensatz zu den scharfen ungarischen Reaktionen haben der polnische und der ukrainische Unterrichtsminister im Oktober 2017 vereinbart, dass die Ukraine der auf ihrem Territorium lebenden polnischen Minderheit weiterhin die Bedingungen garantiert, in ihrer Muttersprache unterrichtet zu werden und im Kindergarten, in der Grund- und der weiterführenden Schule in ihrer Muttersprache zu lernen. Aussicht auf ein ähnliches Abkommen gibt es angesichts der Haltung Ungarns zum Krieg in der Ukraine vorläufig nicht.
Noch wesentlich schwerer wiegend wirkt sich die derzeitige ungarische Politik auf die jahrhundertealte polnisch-ungarische Freundschaft aus. Selbst die Visegrád-Kooperation könnte draufgehen. Zusätzlich verschlimmert hat die Situation ein Interview des neuen ungarischen Generalstabschefs, in dem dieser den Angriff Nazi-Deutschlands auf Polen im September 1939 einen „lokalen Krieg" nannte. Der Schaden wurde noch vergrößert, indem Generalleutnant Gábor Böröndi meinte, der Krieg sei nicht rechtzeitig durch einen Friedensprozess „aufgefangen“ worden, was zum Zweiten Weltkrieg geführt habe. Da hätte nur noch gefehlt, dass der ungarische Generalstabschef gemeint hätte, eigentlich sei der Weltkrieg durch Großbritannien und Frankreich verursacht worden, indem sie Deutschland am 3. September 1939 wegen der Aggression den Krieg erklärten. Es ist nicht schwer, in dem an die Geschichtsverfälschungen des russischen Präsidenten Putin gemahnenden Text die Analogie zur seltsamen Haltung gegenüber dem heutigen Krieg zu erkennen. Denn die ungarische Regierung und ihr nahestehende Kreise verkünden, dass die westliche Waffenhilfe für die Ukraine ein Hindernis für den Frieden sei und ihre Fortsetzung sogar zu einem neuen Weltkrieg führen könnte. Manche behaupten sogar den Unsinn, die Verantwortung für den Krieg in der Ukraine liege im Wesentlichen nicht bei Russland, sondern bei den Vereinigten Staaten.
Ich stimme mit dem polnischen Botschafter in Budapest überein. Sebastian Kęciek zog ebenfalls eine Parallele zwischen den damaligen Ereignissen und der Gegenwart: „Angesichts der großangelegten, unprovozierten und unrechtmäßigen Aggression Russlands gegen die Ukraine sollte Europa die Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg ziehen und sich solidarisch auf die richtige Seite der Geschichte stellen, auf die Seite des Opfers, nicht des Aggressors. Nur so können wir einen dauerhaften Frieden in Europa schaffen."
Als Historiker akzeptiere ich auch nicht, dass der Zweite Weltkrieg und seine Lehren nur von Historikern analysiert werden und es für unwichtig gehalten wird, was andere zum Thema zu sagen haben. Wie sagte doch der französische Ministerpräsident Clemenceau? Der Krieg ist eine zu wichtige Angelegenheit, um sie den Soldaten zu überlassen.
Géza Jeszenszky