Sensationsfund in Ephesos
Die Forscher konnten ein Stadtviertel freilegen, das unter einer Ascheschicht lag und über Nacht verlassen worden war. Die unberührten Funde lösen ein altes Rätsel
Noch vor wenigen Jahren standen die Grabungen österreichischer Archäologinnen und Archäologen in Ephesos aufgrund politischer Spannungen mit der Türkei auf Messers Schneide, dann kam die Pandemie. Dieses Jahr konnten die Grabungen wieder aufgenommen werden. Nun ist dem Team in den Ruinen der antiken Stadt Ephesos an der türkischen Mittelmeerküste ein Sensationsfund gelungen: Unter einer mächtigen Schutt- und Brandschicht hat es bei den diesjährigen Ausgrabungen ein frühbyzantinisches Geschäfts- und Lokalviertel freigelegt. "Was uns völlig überrumpelt hat, ist der hervorragende Erhaltungszustand der Funde", sagt Grabungsleiterin Sabine Ladstätter, Direktorin des Österreichischen Archäologischen Instituts (ÖAI) der Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Sie wertet diese als bedeutendste Entdeckung in der antiken Metropole seit dem Fund der berühmten Hanghäuser vor etwa 50 Jahren.
Kultische Aktivitäten verlagerten sich in Kirchen
Eine der großen aktuellen Fragen der österreichischen Forschung ist der Übergang der Stadtgeschichte Ephesos' von der Spätantike zum Mittelalter. "Von vielen Orten kennt man das Phänomen, dass große Platzanlagen der römischen Kaiserzeit in der Spätantike nicht mehr benutzt und mit Werkstätten und Geschäftslokalen überbaut wurden", sagt ÖAI-Direktorin Ladstätter. Hintergrund sei ein geändertes Repräsentationsverhalten: "Während in der Kaiserzeit noch viele kultische Aktivitäten gemeinschaftlich im Freien stattfanden, verlagerten sich diese in der Spätantike in Kirchen und private Räume", erklärt die Archäologin.
Um herauszufinden, ob das auch in Ephesos der Fall war, haben die Wissenschafterinnen und Wissenschafter heuer auf dem Domitiansplatz gegraben, einer prominenten Platzanlage, die an das politische Zentrum der römischen Stadt, die Obere Agora, anschließt. Gleich unter der obersten Humusschicht stießen sie auf Maueroberkanten, gruben sich dann durch meterweise Aufschüttungsmaterial und stießen schließlich auf eine etwa einen halben Meter dicke Brandschicht.
Versiegelt durch diese Schichten blieb in etwa 3,5 Meter Tiefe eine einzigartige Momentaufnahme der damaligen Lebenswelt erhalten. Auf einer Fläche von rund 170 Quadratmetern wurde eine kleinteilige Verbauung von mehreren Geschäftslokalen freigelegt, die um das Jahr 614 in voller Blüte standen.
Die Forschenden fanden tausende Gefäße, darunter im Ganzen erhaltene Schüsseln mit Resten von Meeresfrüchten wie Herzmuschel oder Austern, Amphoren gefüllt mit eingesalzenen Makrelen, Kerne von Pfirsichen, Mandeln und Oliven, verkohlte Hülsenfrüchte, mehrere Geschäftskassen mit über 700 Kupfermünzen sowie vier zusammengehörige Goldmünzen und Goldschmuck.
Aufgrund der Funde ließ sich die frühere Nutzung der Räume rekonstruieren. Es handelt sich demnach um eine Garküche, einen Lagerraum, eine Taverne, eine Werkstätte mit angeschlossenem Verkaufsraum sowie ein Geschäft für Lampen und christliche Pilgerandenken. "Gleich neben der Eingangstür dieses Geschäfts muss wahrscheinlich ein großer Korb gefüllt mit rund 600 kleinen Pilgerfläschchen gestanden sein, die an christliche Wallfahrer verkauft wurden", vergleicht Ladstätter den Fund mit heutigen Andenkengeschäften in Wallfahrtsorten.
37 Grabungsjahre
"Wir haben hier tatsächlich den letzten Tag der Nutzung dieses Bereichs freigelegt. Das ist mein 37. Grabungsjahr, und bisher habe ich nichts Vergleichbares gesehen", zeigte sich die Archäologin über den Erhaltungszustand begeistert. Doch das rege Geschäfts- und Handwerksleben wurde im Jahr 614 oder 615 jäh unter der einen halben Meter dicken Brandschicht begraben, wie die Datierung durch Münzen zeigte. Nachdem es keine Hinweise auf ein Erdbeben gibt, etwa verschobene Mauern oder aufgewölbte Böden, geht das Forschungsteam von einer kriegerischen Auseinandersetzung aus. Davon zeugen auch zahlreiche gefundene Pfeil- und Lanzenspitzen.
Bisher habe es nur schriftliche Zeugnisse über den Einfall der persischen Sasaniden gegeben, was sehr stark angezweifelt wurde, betonte Ladstätter. Doch auch in der rund 100 Kilometer von Ephesos entfernten Stadt Sardis gibt es Zeugnisse von Zerstörungen aus dieser Zeit. "Es war sicher ein feindlicher Angriff, der so massiv gewesen sein muss, dass er in der Stadt selbst dramatische Veränderungen eingeleitet hat", so die Archäologin. So sei Ephesos im siebten Jahrhundert sprunghaft kleiner geworden, der Lebensstandard deutlich gesunken, und es seien viel weniger Münzen im Umlauf gewesen.
Die Gründe dafür habe man bisher nicht gekannt. Aufgrund der neuen Funde "wird man diese Zäsur in der Stadtgeschichte von Ephesos nun wohl mit den Sasanidenkriegen in Zusammenhang bringen müssen".
Menschen vermutlich verschleppt
Bei den Ausgrabungen wurden in dem Areal keine sterblichen Überreste von Menschen gefunden. "Möglicherweise hat der Angriff in der Nacht stattgefunden", vermutet die Wissenschafterin. Es sei aber auch niemand zurückgekommen, um die wertvollen Gegenstände in den Geschäften zu bergen. Das könnte ein Hinweis auf die bisher nur aus literarischen Überlieferungen bekannte Kriegsführung der Sasaniden sein, die viele Menschen getötet, aber auch viele versklavt und verschleppt haben.
Das Geschäftsviertel auf dem Domitiansplatz sei sicher viel größer gewesen – Ladstätter schätzt rund sechsmal so groß wie das ausgegrabene Areal. Doch die Archäologinnen und Archäologen wollen in Zukunft nur noch ganz gezielt Bereiche ausgraben, jetzt stehe vor allem die Sicherung, Restaurierung und wissenschaftliche Aufarbeitung der Funde im Vordergrund. Auch die freigelegten Mauern sollen gesichert werden, "weil das ist ja ein sehr prominenter Platz, an dem jährlich zwei Millionen Touristen vorbeigehen", so die Archäologin. Künftig sollen die Besucher der Ausgrabungsstätte auch über den Fund informiert werden, und Teile davon sollen im Ephesos-Museum in Selçuk gezeigt werden.
Seit 1894 führt das ÖAI im antiken Ephesos Grabungen durch, deren Fortsetzung jährlich genehmigt werden muss. Ephesos war eine der bedeutendsten Städte der Antike und besaß mit dem Heiligtum der Artemis eines der Sieben Weltwunder der Antike. Nach ihrer ersten Blüte unter den Griechen wurde sie unter den Römern zur Metropole und für frühe Christen ein erster Wallfahrtsort.
(red, APA, 28.10.2022)