SUEZ
Glaubwürdigen Zeitzeugen zufolge hielten die sowjetischen Truppen im November 1956 die Donau für den Suezkanal. Möglicherweise (?) bezog sich der Marschbefehl nicht auf Ungarn, sondern auf Ägypten. In Wahrheit litten sie unter Zielverlust, glaubten, in Budapest Faschisten zu jagen. Es bedeutet eine Wiederholung der eingefleischten „Fehlgriffe“, dass Moskau 67 Jahre nach den „bedauerlichen Ereignissen“ nicht zum Objektivwechsel imstande ist und unverändert von „Faschisten“ spricht. Wer also den Bärentanz nicht auf russische Weise aufführt, kann nur Nazi, Faschist sein.
So viel zur Einleitung, und dann in anderer Hinsicht die Suez-Krise von 1956. In eigenwilliger Perspektive bieten sich im Zusammenhang mit dem ungarischen „Volksaufstand“ Erklärungen an, unter anderem, dass die imperialistischen Interessen den Schutz der Freiheit oder wenigstens das Einstehen für sie bei weitem überwogen. Heutzutage sind wir mit einem ganz anderen Verhalten konfrontiert: Ohne Kriegsführung zwar, aber die seit eineinhalb Jahren erfolgende Verteidigung der Ukraine wäre unvorstellbar ohne die aktive Unterstützung des Westens.
1956 und 2023 wurden und werden unterschiedliche Maßstäbe angelegt. Über dieses keineswegs mathematische Theorem nachzudenken lohnt sich, vor allem im ungarischen Globus. Zweifellos waren die bewaffneten Kämpfe befeuert durch den Glauben, der Westen werde Ungarn nicht allein lassen. Dass es schließlich allein blieb, zog maßlose Enttäuschung nach sich. Wie oft und oft haben wir angesichts der Tatsachen versucht, Lehren zu ziehen, und an jedem Jahrestag bemühen wir uns ohne Endergebnis, akzeptable Antworten aus der Welt der unauflösbaren Widersprüche und Gegensätze zu finden. Was wäre denn einfacher als – die historische Erinnerung übrsteigend – so zu tun, als hätten die damaligen Ereignisse gar nicht stattgefunden, oder wenn doch, was wir nach so vielen Jahren mit ihnen anfangen können?
Dies bleibt das unüberwindliche Dilemma von 1956. Denn wir Ungarn leiden unter einer unbehandelbaren Dysfunktion: Wir fühlen mit dem Hirn und denken mit dem Herzen. Mit solchen Voraussetzungen sind wir kaum in der Lage, die Dinge an ihren Platz zu stellen, deshalb lässt die endgültige Schlussfolgerung immer auf sich warten. Nur deshalb, weil in und um uns schicksalhaft das Unbekannte, Zufällige wohnt, und dies wiederum das nicht wieder gut zu Machende zu unseren Gunsten notiert, wenn auch nicht wendet. Das ist unsere Ermutigung und unsere Stärke: den Kampf nicht aufzugeben, auch wenn der
der gesunde Menschenverstand Einhalt gebietet. In der Realität verhält sich dies natürlich völlig anders, aber unbewusst, in unseren Träumen ist es umso eindringlicher.
Auch wir finden keine Erklärung für unsere heutigen Kämpfe. Wie können wir dann von anderen, speziell vom Westen, erwarten, dass sie unsere Gedankengänge, unser Handeln nachvollziehen? Zweifellos wäre es gut, uns durch den selbstgezüchteten Urwald durchzukämpfen, doch dann wäre alles so einfach und greifbar, dass wir nichts damit anfangen könnten. Nach Ady hat eine poetischere Spezies nie gelebt; Széchenyi verweist im Zusammenhang mit unserer Sprache auf unsere östliche Denkweise. Hier sitzen wir seit über tausend Jahren in der Mitte Europas fest und verstehen immer noch nicht unsere eigenen Gedankengänge, weil wir uns durch Sirenenklänge verleiten und verführen lassen
von unseren emotionalen Visionen, den auch real feststellbaren Fata Morganas. Es tut so gut, sich in diese zu vertiefen, besonders in der Trostlosigkeit der Gegenwart.
Bei all dem sind wir allein.
Und doch, wenn auch nur halbherzig und ungeschickt, bestehen wir doch im Nachhinein auf alles, was und wer wir sind. Inmitten Europas, auf der Landstraße der Völker, am Kollisionspunkt. Hier müssen wir uns auch für jene bewähren, die in großer Ferne diese Nation beweinen. Das ist es, was in einer feindlichen Welt einige „Fremde“, in Wahrheit Seelenverwandte so oft fasziniert hat und weiterhin fasziniert. In Wahrheit lebt der Mensch in Umkehrung der biblischen Lehre nicht nur von Visionen und Träumereien, sondern auch vom täglichen Brot, das sehr mühsam verdient werden muss, nicht durch Runenschrift und lockere Festtracht, sondern in der Welt und der Sprache der Computer. Zweifellos kommt uns die künstliche Intelligenz immer näher, kann aber nicht unsere Lebensfunktionen übernehmen, an unsere Stelle treten. Wenn wir also bleiben wollen, wer und was wir sind, müssen wir lernen, mit Vernunftargumenten zu leben.
Das in die Zukunft weisende Geheimnis unseres Ungartums ist die Dualität. Das heißt, es reicht nicht aus, Ungarn zu sein, wir müssen das Anderssein nicht nur akzeptieren, sondern auch damit leben. Denken wir nur an unsere Nachbarn.
Ich bewahre ein Foto aus dem Jahr 1956 auf, für mich am aussagekräftigsten, das Rätsel unserer nationalen Revolution, ihr erhabenes Geheimnis. Junge Demonstranten ziehen auf der Straße, das polnische Wappen in Händen. Die in der ersten Reihe Marschierenden blicken durchgeistigt auf etwas. Einer der Kronzeugen erklärte, jemand könnte in einem der umliegenden Häuser die ungarische Fahne gehisst haben, das könnte die Aufmerksamkeit der jungen Leute geweckt haben. Also polnisch-ungarisch. Oder „Auf, Ungar“ und die Nationalhymne...
Kurzum, meine Mitmenschen, Ungarn und Menschen, es ist lohnend und sinnvoll, Ungar zu sein. Der gefängnisgewohnte Dichter Gábor Kocsis (Tunyogi Csapó) bekannte in einer Festrede im Westen: Wäre in seinem Leben nichts anderes passiert, als dass er 1956 er- und durchlebt hat, dann war es schon das Leben wert.
Pannonicus
Original: „Pannonicus: Suez“