Von Hradschin bis Visegrad
Die Parlamentswahlen vom 30. September in der Slowakei und vom 15. Oktober in Polen lösten in beiden Ländern ein parteipolitisches Erdbeben aus – und dennoch haben sich die tektonischen Linien in Ostmitteleuropa kaum verschoben. Der Wind der Veränderung ist eher in den Hauptstädten zu verspüren als zwischen den Staaten. Mit Blick auf die Positionen der Sieger kann dies als Sensation verbucht werden.
Nichts zeigt die thematische Bewegungslosigkeit besser als das Gipfeltreffen der Staatsoberhäupter der Visegrád-Vier (V4), zu dem der Tscheche Petr Pavel die Slowakin Zuzana Čaputová, den Polen Andrzej Duda und die Ungarin Katalin Novák in den Prager Hradschin geladen hatte. Seit dem Treffen von Preßburg (Bratislava) im Oktober 2022 ereignen sich in der Welt die Katastrophen in Serie – das Treffen der vier Staatsoberhäupter half laut Petr Pavel „beim Orten jener Gebiete, auf denen die Nachbarn kooperieren könnten“. Die Ansichten der Politiker mögen sich ändern – ihre Länder bleiben unverändert Nachbarn. „Wir müssen wissen, wo sich unsere Ansichten treffen, wo wir zusammenarbeiten können bzw. wo sich unsere Meinungen trennen“, formulierte der tschechische Präsident. Zuzana Čaputová doppelte nach: Das Interesse der vier Länder sei die Entwicklung der gutnachbarlichen Beziehungen, aber „wir nehmen Rücksicht darauf, dass unsere Meinungen in einigen Fragen voneinander abweichen“, sagte die slowakische Präsidentin. Und: „Es ist wichtig, dass wir auch über diese sprechen können.“
Hervorragendes Thema bei den Beratungen war laut Katalin Novák die Sicherheit, bei der Ungarns Republikspräsidentin meint, „der V4-Block bildet eine sichere Insel im Herzen Europas“. Hervorragende Bedeutung messen die Staatschefs dem Schutz der Europäischen Union und der Schengen-Grenzen, dem wirksamen Auftreten gegenüber der illegalen Massenmigration sowie der Verteidigung gegen Terrorakte zu, erklärte Katalin Novák.
Auf ungarischen Vorschlag wurde beschlossen, die Aufstockung des Visegrád-Fonds zu betreiben, der bisher mit jährlich zehn Millionen Euro wirtschaftete. Katalin Novák sähe gern doppelt so viel in Initiativen investiert, die eine Stärkung der zwischenstaatlichen Kooperation bedeuten. Außerdem könnte anderen Ländern, darunter der Ukraine, geholfen werden. In Zusammenhang mit dem dort tobenden Krieg teilte Katalin Novák mit, es sei die einhellige Position, dass Russland den Krieg nicht gewinnen dürfe, sie auf Seiten der Ukraine stünden und die Visegrád-Staaten jeweils auf ihre Art bemüht seien, der Ukraine bei der erfolgreichen Verteidigung ihrer Nation und ihres Territoriums zu helfen.
Das ist zwar nicht das völlige Gegenteil der Taten von Viktor Orbán, deckt sich aber auch nicht mit diesen. Der ungarische Ministerpräsident schrieb genau zu jener Zeit einen Brief an Charles Michel, den Chef des Europäischen Rates, als Katalin Novák in Prag verhandelte. Orbán forderte „dringend”, eine „strategische Besprechung“ über die EU-Politik abzuhalten, weil er sonst die Verhandlungen über Ukraine-Hilfe entgleisen lasse, zitierte „Politico“ aus dem Brief. Laut Orbán seien Beschlüsse über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine, über weitere Finanzhilfen an das Land sowie über eventuelle neue Sanktionen gegen Russland unmöglich, wenn die Leiter der EU der „strategischen Besprechung” nicht zustimmten. Ein EU-Diplomat meinte zum englischsprachigen Brüsseler Online-Medium, mit dieser Veto-Drohung unterminiere der ungarische Regierungschef alle Entscheidungen in Zusammenhang mit der Ukraine.
Interessanterweise stimmt Orbán in diesem Themenkreis weitgehend mit seinem alt-neuen slowakischen Amtskollegen überein. Der für seine Ukraine-Feindlichkeit berüchtigte Robert Fico hat dafür die aus seinen früheren Amtszeiten bekannte Ungarn-Feindlichkeit und die vereinzelt unterstellte Linksorientierung beiseitegelegt. Das Pressburger Parlament sprach Ficos vierter Regierung das Vertrauen aus, indem seine Programmerklärung abgesegnet wurde. Diese ähnelt laut Experten in vielem Orbáns Politik. Ľuboslav Kačalka, Mitarbeiter der slowakischen Wirtschaftswochenzeitung „Trend“, formulierte in einem Artikel für die ungarischsprachige Zeitung „Új Szó“: „In Wahrheit wählt er seit den ersten Schritten eher die überteuerten allgemeinen Lösungen, mit denen er nicht bloß die wirklich Bedürftigen anspricht, sondern alle Wähler. Ein typisches Beispiel dafür ist die 13. Pension, die ab nächstem Jahr als Gesamtbetrag auch an die wohlhabendsten Pensionisten ausgezahlt wird.“ Das Geld dafür soll durch verschiedene Steuer- und Beitragserhöhungen aufgetrieben werden. „In der Praxis wird darüber hinaus wahrscheinlich nichts aus dem Bemühen der linksgerichteten Regierung, die Reichen mehr zahlen zu lassen, sodass die zusätzlichen Lasten der Steuererhöhungen alle Haushalte treffen werden“, schrieb Kačalka. Dem Regierungsprogramm stimmten 78 Abgeordnete zu, 65 waren dagegen, sieben abwesend. Die Dreierkoalition aus Robert Ficos Bewegung „Richtung“ (Smer-SD), Peter Pellegrinis „Stimme“ (Hlas-SD) und Andrej Dankos „Slowakischer Nationalpartei“ (SNS) kann sich im Parlament auf 79 Abgeordnete stützen.
Aus der V4-Sicht sind die außenpolitischen Leitlinien der Fico-Regierung vielleicht wichtiger. Die Programmerklärung legt fest: Die neue Regierung „unterstützt eine Lösung des Ukraine-Konflikts auf Basis des internationalen Rechts, die Unabhängigkeit und territoriale Integrität der Ukraine sowie deren natürliches Recht auf Selbstverteidigung berücksichtigt“. Gleichzeitig steht da eine an Orbán gemahnende Passage, wonach es „keine Aussicht auf eine militärische Lösung des Konflikts“ gebe, weshalb „die slowakische Regierung die zu einer Feuerpause und zu Friedensplänen führenden Initiativen der internationalen Gemeinschaft unterstützen“ werde.
Was die Europäische Union betrifft, folgt Fico auch hier dem ungarischen Amtskollegen und bezeichnet das Brüsseler „Bemühen“ als Illusion, in der EU „in grundlegenden Fragen die einstimmige Beschlussfassung durch mehrheitliche Zustimmung ablösen zu lassen“. Dies sei ebenso wie die Versuche zur Einführung eines Quotensystems für Migranten „nicht vereinbar mit den Vorstellungen der neuen slowakischen Regierung zur EU-Mitgliedschaft und zur Notwendigkeit des Schutzes der nationalen Interessen“.
Polen wird erwartungsgemäß genau in die Gegenrichtung unterwegs sein, wenn Donald Tusk nach dem aus dem Wahlergebnis entstandenen Mehrheitsverhältnis eine Regierung bildet. Die komplizierte Formulierung ist deshalb nötig, weil seit Mitte November noch der bisherige Ministerpräsident versucht hat, eine Mehrheit zu zimmern. Mateusz Morawiecki wurde deshalb von Präsident Andrzej Duda damit betraut, weil die Noch-Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) mit 194 Mandaten die stärkste Fraktion im Warschauer Parlament, dem Sejm, bildet. Aber dennoch keine Mehrheit hat und alles darauf hindeutet, auch nicht haben wird. Zwei bisherige Oppositionspolitiker haben nämlich Morawieckis Angebot abgelehnt. „Wir haben uns schon mit dem Ministerpräsidenten, jenem der Mehrheitskoalition, geeinigt – Donald Tusk. Wir führen keine gleichzeitigen Verhandlungen mit zwei Ministerpräsidenten. Ein Double interessiert uns nicht“, sagte Marek Sawicki, Abgeordneter der Polnischen Bauernpartei (PSL). Diese bildet mit der Bewegung Polen 2050 das Bündnis namens Dritter Weg, das eine fixe Zusammenarbeit mit Tusks Partei, der aus Solidarnosc hervorgegangenen Bürgerplattform, anstrebt. Der künftigen Vierparteienkoalition gehören 248 der 460 Sejm-Abgeordneten an.
Tusk, einst Präsident des Europäischen Rates, später der Europäischen Volkspartei, wird nach seinen bisherigen Äußerungen Polens EU-Politik umkrempeln. Die nationalistische PiS hat seit ihrem Machtantritt 2015 zahlreiche Diskussionen mit „Brüssel” über demokratische Normen geführt. Tusks Bündnis hat nicht nur die Neuordnung der EU-Beziehungen, sondern vor allem auch die Befreiung der – ähnlich wie gegenüber Ungarn – eingefrorenen Geldmittel versprochen.
Auf die neue polnische Regierung muss aber noch gewartet werden. Selbst nach knappsten Berechnungen kann das Kabinett erst Mitte Dezember die Arbeit aufnehmen. Und auch dann wird Donald Tusk kein leichtes Spiel haben, weil sein politisches Lager aus mehr als einem Dutzend Parteien und Parteiresten besteht. Bisher ist es nicht gelungen, rund um die Vorstellungen des künftigen Ministerpräsidenten ein Regierungsprogramm zu erstellen.
In Warschau löst also der „Europäer“ Tusk die nationalistische PiS-Regierung ab. In Preßburg ist der „linksgerichtete Autokrat“ Robert Fico dem Technokraten Lajos Ódor gefolgt. In Prag regiert seit längerem eine Mitte-Rechts-Koalition statt dem Autokraten Andrej Babiš. In den V4-Staaten haben sich also mit Ausnahme Ungarns die politischen Mehrheitsverhältnisse grundlegend verändert.
Auf dem Prager Gipfel wurde das Maximum der Übereinstimmung erreicht: „Wir müssen wissen, wo sich unsere Ansichten treffen, wo wir zusammenarbeiten können bzw. wo sich unsere Meinungen trennen.“ Die vier Staatsoberhäupter kennen die Realität. Peter Martos
Original: Martos Péter: “A Hradzsintól Visegrádig”